Diagnose und Befundbericht im Hinblick auf die krankende Königsdisziplin
Das Kernproblem der angelsächsischen Bewertungstheorie ist die realitätsferne Prämisse eines bei vollständiger Konkurrenz im Gleichgewicht befindlichen vollkommenen und vollständigen Marktes. Dies führt zu einer Gleichsetzung von Wert und Preis eines Gutes sowie zu unweigerlich daraus resultierenden betriebswirtschaftlichen Fehlentscheidungen.
(Thomas HERING / Roland ROLLBERG: Demaskierung der angelsächsischen Bewertungslehre)
Die den angelsächsischen Bewertungsmodellen inhärente Gleichsetzung von Wert und Preis als Handlungsempfehlung impliziert, ein Kauf zum "Marktwert" sei ohne Weiteres vorteilhaft oder wenigstens nicht nachteilig. In dieser Modellwelt bleiben "Bewertungsblasen" unentdeckt und begünstigen dadurch krisenhafte Fehlentwicklungen.
Aus diesem Anlass haben Gerrit BRÖSEL und Martin TOLL für die angelsächsische Bewertungslehre eine Krankenakte angelegt. In der M+A - Review 6 / 2011 schreiben sie:
Aus diesem Anlass haben Gerrit BRÖSEL und Martin TOLL für die angelsächsische Bewertungslehre eine Krankenakte angelegt. In der M+A - Review 6 / 2011 schreiben sie:
Irregeleitete Bewertungspraxis als die Finanzmarktkrise mitzuverantwortender Appendix vermiformis der angloamerikanischen Bewertungstheorie
Bereits vor mehr als 40 Jahren konnte die deutschsprachige Bewertungsliteratur die bis dahin dominierende objektive Wertlehre als unhaltbar klassifizieren. Die Absicht, einen unparteiischen, objektiven, vom Bewertungssubjekt losgelösten Wert zu ermitteln, musste aufgrund der Realitätsferne scheitern. Letztlich mussten deren Vertreter eingestehen, dass ein Einigungswert zwischen konfligierenden Parteien ohne Berücksichtigung von deren subjektiven, also individuellen Zielen und Entscheidungsfeldern nicht ermittelt werden kann. Dies hatte - im deutschsprachigen Raum - konsequenterweise den endgültigen Durchbruch der subjektiven Bewertungstheorie zur Folge.
Die bisher geschilderten theoretischen Defizite sind zwar immens, hätten aber isoliert betrachtet nicht zur wohl größten Finanz- und Wirtschaftskrise der Neuzeit führen können. Ein weiteres entscheidendes Problem des "fair-value-accounting", welches die Entstehung der Finanzkrise begünstigte, muss in der prozyklischen Wirkung auf die Bewertungshöhe gesehen werden. In Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs werden die am Markt beobachtbaren Preise steigen, was wiederum zu erhöhten Bewertungen im Rahmen des "fair-value-accounting" führt und schließlich in "Bewertungsblasen" endet. Gerade im Bankensektor mündet diese Bewertungspraxis in überbewerteten Eigenkapitalausstattungen, was letztlich weitere Kreditgeschäfte erlaubt und somit die Blasen weiter aufbläht. Kommt es in der Folge zu einem wirtschaftlichen Abschwung, kehrt sich der geschilderte Bewertungsprozess um und die entstandenen Blasen platzen. Um die erhöhten Wertansätze nun an die deutlich geringeren Marktpreise anzupassen - wie es das "fair-value-accounting" explizit verlangt - müssen teils enorme Abschreibungsvolumina und korrespondierend schmelzende Eigenkapitalpositionen verkraftet werden. Aufgrund der daraus resultierenden schlechteren Bonität sinken die Marktpreise weiter und der Abwärtstrend setzt sich fort. Wie in der Finanzkrise zu erkennen war, mündete der dadurch bedingte Vertrauensverlust unter den Banken schließlich im Zusammenbruch des Systems.
In einer solchen Situation zeigt sich erneut die Unausgegorenheit des "fair-value-accounting": Wenn es keine aktiven Märkte und auch keine (wahrscheinlich noch gültigen) Marktpreise früherer Transaktionen gibt, soll laut IAS 38, 39 und 30 für die Bewertung auf DCF - Verfahren beziehungsweise auf Optionspreismodelle zurückgegriffen werden. Die Sinnlosigkeit dieser Regelung ist darin zu sehen, dass die DCF - Verfahren und Optionspreismodelle wiederum von vollständigen und vollkommenen Märkten unter vollständiger Konkurrenz ausgehen und daher nicht zum Einsatz kommen dürften, wenn eben gerade diese nicht vorliegen.
Im Anschluss an diese Ausführungen schlagen BRÖSEL / TOLL die funktionale Unternehmensbewertungstheorie als Prävention künftiger Fehlentwicklungen vor. Während die angelsächsische Bewertungstheorie eine idealisierte Modellwelt unterstellt, versucht die funktionale Sichtweise die Realität so zu nehmen, wie sie ist:
Da zukünftige Entwicklungen in der realen Welt immer der Unsicherheit unterliegen, geht die funktionale Lehre folgerichtig vom "Wert als Bandbreite" aus. Das heißt, es kann nur ein Bereich angegeben werden, in welchem sich verschiedene Ausprägungen der Wertgröße mit bestimmten Wahrscheinlichkeiten versehen lassen. Im Hinblick auf die Zukunft besteht letztlich Unsicherheit, die den Entscheidungsträgern transparent offengelegt werden sollte.
Wolf F. FISCHER - WINKELMANN beklagt in seiner Abhandlung Sollen impliziert Können - Grundsätze ordnungsgemäßer Unternehmensbewertung einmal anders (BFuP 4/2009, S. 343 ff.) die in der angelsächsischen Bewertungspraxis sehr häufig anzutreffenden so genannten "Punktprognosen":
Die einwertigen Prognosen, sprich die sogenannten Punktprognosen, welche die Bewertungspraxis in Spruchverfahren der BIG FIVE und deren Ableger oder sonst nahestehenden Gesellschaften prägen, suggerieren dem Adressaten der Bewertungsergebnisse optisch und gefühlsmäßig einen hohen Sicherheitsgrad der ermittelten Werte, da dieser in der Regel die desaströsen Hintergründe nicht durchschaut. Die Punktprognosen pflegen in Gutachten-, Umwandlungs-, Verschmelzungsberichten usw. so präsentiert zu werden, als könnte man künftige Entwicklungen, insbesondere die zu erwartenden Netto - Ausschüttungen, in einer Zahl (einwertig) ausdrücken. Nun ist es aber so, daß nachweislich jede Prognose unsicher, d.h. mehrwertig ist (logisch sein muß, Popper!) und immer, offen oder verdeckt eine Bandbreite möglicher zukünftiger Werte umfaßt. Bei einwertig präsentierten Bewertungsverfahren werden die einwertig prognostizierten Zukunftsergebnisse intiuitiv zu einem einwertigen Unternehmenswert zusammengefaßt, der sozusagen im Hintergrund eine unbekannt bleibende Bandbreite möglicher Werte irgendwie repräsentiert. So produzierte Unternehmenswerte sind Selbsttäuschung, die dann zur Täuschung der Adressaten führen, wenn man es rigide formulieren möchte.
Ein geeignetes Bewertungsverfahren hat die logische Notwendigkeit stets mehrwertiger Erwartungen hinsichtich des Zukunftserfolges des zu bewertenden Unternehmens zu berücksichtigen. Es impliziert eine Entscheidung des Bewertungsadressaten (Käufer/Verkäufer) zwischen verschiedenen - unterschiedlich risikobehafteten - Grenzpreisen und setzt beim Bewerter die Kenntnis der Risikopräferenz des Käufers / Verkäufers voraus. In diesem Sinne ist "das" Risiko Ergebnis des Bewertungskalküls, nicht Determinante.
Die angelsächische Bewertungspraxis krankt auch an der Anwendung des weit verbreiteten Multiplikatorverfahrens. Das Multiplikatorverfahren der Unternehmensbewertung verletzt HUMEs Gesetz. Dass der präsumtive Käufer eines Unternehmens nicht bereit ist, einen Preis für eine tatsächlich bereits erzielte Gewinn- oder Umsatzgröße zu bezahlen, ist im Grunde darauf zurückzuführen, dass es sich bei der Anwendung der Multiplikatorverfahren der Unternehmensbewertung um einen logisch unzulässigen Übergang vom Ist zum Soll handelt:
HUMES GesetzAus deskriptiven Aussagen können keine präskriptiven Aussagen abgeleitet werden.
Der schottische Philosoph David HUME hat als erster ausdrücklich und mit großer Klarheit auf diesen Zusammenhang hingewiesen. HUMEs Gesetz wird in der modernen philosophischen und wissenschaftstheoretischen Diskussion häufig mit dem "naturalistischen Fehlschluss" gleichgesetzt. Der Begriff "Naturalistic Fallacy" wurde von George E. Moore in seinem 1903 veröffentlichten Werk "Principia Ethica" (Cambridge) geprägt. "Principia Ethica" wird mit dem folgenden Zitat eröffnet:
"Everything is what it is, and not another thing" (Bishop Joseph Butler).
Dagegen ist die funktionale Unternehmensbewertung streng zukunftsbezogen. 1922 legte Eugen SCHMALENBACH mit seinem Werk FINANZIERUNGEN ein solides Fundament für die Abhängigkeit des Unternehmenswertes von der Zukunft. Er war mit seinen Überlegungen zur Unternehmensbewertung seiner Zeit um Jahrzehnte voraus:
Für die Bewertung von Unternehmungen müssen wir angesichts der vielen schiefen Vorstellungen in Theorie und Praxis einen an sich selbstverständlichen Grundsatz mit großem Nachdruck betonen:
Es kommt bei dem Werte einer Unternehmung (ebensowenig wie bei anderen Sachen) an sich nicht darauf an, was dieser Gegenstand gekostet hat, was er geleistet hat, oder was sonst in der Vergangenheit von ihm bekannt ist, sondern lediglich zukünftige Umstände sind für den Wert des Gegenstandes bestimmend. Nur deshalb, weil wir nicht in die Zukunft sehen können und weil wir das für Zukunftsschätzungen nötige Material aus der Vergangenheit gewinnen müssen, hat das Vergangene für unsere Schätzungen Interesse. Man sollte glauben, daß dieser Fundamentalsatz der Schätzungslehre viel zu selbstverständlich sei, als daß er verdiente, ausgesprochen zu werden. Aber man findet in der praktischen Schätzungstechnik Verstöße gegen diese Regel in großer Zahl.
Derjenige, der eine Unternehmung kaufen will, ist wirtschaftlich an nichts anderem interessiert als daran, was eine Unternehmung ihm in Zukunft erbringen wird. Genau dieselbe Erwartung beherrscht denjenigen, der sich nur beteiligen will; zwar ist es nur ein Teil an der Unternehmung, den der letztere zu erwerben beabsichtigt; aber das Interesse ist nur quantitativ, nicht aber qualitativ von demjenigen des Alleinkäufers verschieden. Selbst derjenige, der eine Unternehmung weder kaufen noch sich an ihr beteiligen, sondern sie nur beleihen will, ist, sofern es ihm überhaupt um eine Realsicherheit geht, nicht an der wirtschaftlichen Vergangenheit sondern an der wirtschaftlichen Zukunft der Unternehmung interessiert. Denn nur die zukünftige Wirtschaftlichkeit gibt dem Beleiher Sicherheit für den Notfall. Auch derjenige, der verkaufen will, muß, wenn er rein wirtschaftlich denkt, seine Kalkulation lediglich auf die Zukunft einstellen. Nicht das, was das Unternehmen in der Vergangenheit geleistet hat, geht ihm durch den Verkauf verloren, sondern dasjenige, was die Unternehmung in Zukunft noch leisten würde.
(Schmalenbach: Finanzierungen, Köln 1922, S. 1-2)
In der von BRÖSEL / TOLL angelegten Krankenakte findet man aber glücklicherweise ein Attest:
Das Wissen um die theoretischen Defizite der neoklassischen (angelsächsischen) Bewertungsmodelle sowie ein konsequentes Ablehnen des "fair value accounting" hätten vielleicht nicht das Entstehen der jüngsten Finanzkrise verhindern, aber zumindest deren Verlauf abmildern können. Die Finanzkrise machte schließlich einerseits die "Markthörigkeit" der agierenden Subjekte und andererseits die mangelhafte Verbreitung der Ideen der funktionalen und selbst der subjektiven Lehre auch insofern deutlich, als zahlreiche Subjekte zum Kauf hochpreisiger "Papiere" bereit waren, obwohl deren Werte gewöhnlich meist unter dem (Markt-)Preis hätten liegen sollen. Um krisenverursachenden und verstärkenden Über- beziehungsweise anderen Fehlbewertungen entgegenzuwirken und damit zu verhindern, dass die "Königsdisziplin" zukünftig weitere "Bauernopfer" fordert, sollten sich die Bewertungstheoretiker weltweit mehr mit der subjektiven und vor allem der funktionalen Lehre auseinandersetzen und nicht blind den idealisierten Modellvorstellungen angelsächsischer Herkunft vertrauen. Um dies voranzutreiben, wurde die funktionale Unternehmensbewertungstheorie in ihren Grundzügen dargestellt und anschießend versucht ihre Stärken - gerade in Verbindung mit der Verhinderung von krisenverursachenden und -beschleunigenden Entwicklungen - herauszustellen.
Der Einsatz kapitalmarkttheoretischer Verfahren in der Bewertung täuscht eine Sicherheit vor, welche in der Realität nicht vorliegt. "Die Wiedrigkeiten der realen Welt und speziell unsere Unfähigkeit, in die Zukunft zu schauen, zwingen uns (hingegen), mit unvollkommenen Lösungen zu leben. Ideale Lösungen gibt es in dieser Welt nicht, allenfalls brauchbare, welche die Realität so nehmen, wie sie ist und im Hinblick auf den konkret definierten Zweck das jeweilige subjektive Zielsystem und Entscheidungsfeld berücksichtigen.
Außerdem könnte - um einen kurzen Ausblick abseits der funktionalen Theorie zu geben - eine verstärkte Anwendung des im deutschen Bilanzrecht verwurzelten und seit 1884 gültigen Anschaffungskostenprinzips bei der Bilanzierung von Vermögenspositionen erneute Überbewertungen verhindern. Nicht zuletzt dadurch wurde der kontinentaleuropäische Wirtschaftsraum von der weltweiten Wirtschaftskrise vergleichsweise weniger hart getroffen. Wo keine Blasen entstehen, können folglich auch keine platzen.
(Quelle: Brösel, Gerrit / Toll, Martin: Die Finanzmarktkrise im Lichte der Unternehmensbewertung - Diagnose und Befundbericht im Hinblick auf die krankende Königsdisziplin, in: M+A - Review 6/2011)
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