Aus der Traum – „Demaskierung“ der angelsächsischen Bewertungslehre
Von Univ.-Prof. Dr. habil. Thomas Hering und Univ.-Prof. Dr. habil. Roland Rollberg
Die angelsächsische Bewertungslehre hat sich seit Anfang der 1990er Jahre vor allem mit dem Shareholder – Value - Ansatz in der Wirtschaftspraxis weitgehend durchgesetzt. Der Beitrag entlarvt das dahinter stehende realitätsferne Gedankengebäude als eine der bedeutendsten Ursachen der jüngst auf den internationalen Kapitalmärkten zu beobachtenden Finanzkrise.
Theorie und Praxis sollten aus der jüngsten Finanzkrise die Konsequenz ziehen, die Prinzipien der vermeintlich „objektiven“ angelsächsischen Wertlehre aufzugeben und sich stattdessen verstärkt dem Gedankengut der österreichischen Grenznutzenschule und der subjektiven deutschen Bewertungstheorie zuzuwenden. Durch eine derartige Umorientierung werden künftige Krisen zwar nicht ausgeschlossen, sie werden aber auch nicht durch lebensfremde Weltanschauungen und unvorsichtige Verhaltensweisen „angeheizt“ [auch im Folgenden 10].
Das Kernproblem der angelsächsischen Bewertungstheorie ist die realitätsferne Prämisse eines bei vollständiger Konkurrenz im Gleichgewicht befindlichen vollkommenen und vollständigen Marktes. Dies führt zu einer Gleichsetzung von Wert und Preis eines Gutes sowie zu unweigerlich daraus resultierenden betriebswirtschaftlichen Fehlentscheidungen.
In der Realität sind Finanz- und Realgütermärkte unvollkommene und unvollständige Märkte, auf denen der Preis eines Gutes nur im Ausnahmefall mit seinem individuellen Wert aus Sicht eines spezifischen Marktteilnehmers übereinstimmt. Betriebswirtschaftliches Handeln setzt deshalb stets eine subjektive Bewertung voraus, die sowohl die individuelle Zielsetzung als auch das individuelle Entscheidungsfeld des jeweiligen Bewerters explizit berücksichtigt. Eine Orientierung an subjektiven Entscheidungswerten statt an vermeintlich „objektiven“ Marktpreisen wirkt einem Krisen forcierenden gleichgerichteten „Marktverhalten“ weitgehend entgegen.
Vollkommener und vollständiger Markt als Fiktion
Das Fundament der angelsächsischen Bewertungslehre sind die idealisierten Bedingungen eines in der Realität nicht beobachtbaren vollkommenen Marktes. Auf einem vollkommenen Markt [20, S. 1] existiert zu einem bestimmten Zeitpunkt für ein und dasselbe Gut ein von vornherein bekannter einheitlicher An- und Verkaufspreis („Gesetz der Unterschiedslosigkeit der Preise“ [13]). Zu diesem eindeutigen gleichgewichtigen Marktpreis, der dem von allen Nachfragern und Anbietern einheitlich eingeschätzten Wert des Gutes in Höhe seines „objektiven“ Grenznutzens entspricht, sind beliebige Mengen des Gutes verfügbar. Dies setzt voraus,
- dass aus Sicht aller Marktteilnehmer alle Mengeneinheiten des jeweiligen Gutes sachlich identisch sind (sachlich homogenes Gut),
- dass zwischen den Anbietern und Nachfragern keine persönlichen Präferenzen bestehen,
- dass die Nachfrager keine räumlichen und zeitlichen Präferenzen haben,
- dass keine Transaktionskosten anfallen,
- dass die Marktteilnehmer über die gegebene Marktsituation uneingeschränkt informiert sind (vollständige Markttransparenz) und
- dass sie auf Marktveränderungen unmittelbar reagieren (unendlich hohe Reaktionsgeschwindigkeit) [26, S. 66 f.].
Ist ein solcher vollkommener Markt zusätzlich „vollständig“ (alle Zahlungsströme lassen sich durch gehandelte Wertpapiere nachbilden) und gilt außerdem vollständige Konkurrenz (Marktteilnehmer haben keinen Einfluss auf den Preis der Wertpapiere), so lässt sich unter diesen „klinisch reinen Laborbedingungen“ die Gleichheit von Wert und Preis eines Gutes für alle Marktteilnehmer bejahen [27, S. 528 f.; 7, S. 153-163].
Realitätsferne inkonsistente angelsächsische Bewertungslehre
Um unter den Bedingungen eines vollkommenen Marktes, den es in der Realität nicht gibt, Unternehmen, Sachinvestitionen, Wertpapiere und andere Güter dennoch „marktorientiert“ objektiv bewerten zu können, muss das Marktgeschehen rechnerisch vorweggenommen (fingiert) werden.
Die neoklassische Finanzierungstheorie hat ihr Augenmerk seit den späten fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts auf die Klärung der Fragen konzentriert, ob und wie der Markt drei entscheidende Merkmale eines Objekts bewertet: die Kapitalstruktur, das Risiko und die (Real-)Optionen [auch im Folgenden 7, S. 168-206].
Aus den in diesem Zusammenhang getrennt voneinander entwickelten theoretischen Gleichgewichtsmodellen ergeben sich in der Tat eindeutige Bewertungsgleichungen, die aber jeweils auf ganz bestimmten Voraussetzungen über die Kapitalmarktumgebung beruhen. Die Grundannahmen der drei angesprochenen Gruppen von Gleichgewichtsmodellen sind allerdings nicht nur in der Realität unerfüllt und unerfüllbar, sondern darüber hinaus nicht aufeinander abgestimmt und deshalb zum Teil unverträglich. Letzteres betrifft beispielsweise die Existenz von Steuern, den zeitlichen Horizont und die Homogenität der Erwartungen der Marktteilnehmer. Gleichwohl hindert dieser Umstand die Verfechter einer ?marktorientierten? Bewertung nicht daran, verschiedene Versatzstücke der Gleichgewichtstheorien pragmatisch in einem Shareholder – Value - Ansatz zusammenzuführen.
Im Einzelnen handelt es sich bei den angesprochenen wohlbekannten Modellgruppen um die auf Modigliani und Miller [18] zurückgehenden Discounted – Cash - Flow-Verfahren (sog. DCF - Verfahren in den Hauptvarianten „Adjusted Present Value“ (APV), “Weighted Average Cost of Capital” (WACC) und „Equity“), das Capital Asset Pricing Model (CAPM) und die Optionswertmodelle nach Black/Scholes [4] und Cox/Ross/Rubinstein [5]. Stellvertretend für deren theoretische Defizite sei nur das CAPM [25; 14; 19] als das „goldene Kalb“ [9, S. 43] der angelsächsischen Bewertungslehre herausgegriffen. Gegen seinen Einsatz sprechen [8, S. 289-296; 2, S. 263-265; 3, S. 361-363]
- die in der Praxis samt und sonders nicht erfüllten theoretischen Anwendungsprämissen,
- der logische Widerspruch, ein Gleichgewichtsmodell zur Bewertung von Gegenständen im Ungleichgewicht heranzuziehen,
- der lenkpreistheoretische Fehler,
- objekt- statt zustandsspezifische Abzinsungsfaktoren anzusetzen,
- statistisch-methodische Einwände (Immunisierung gegen Tests, empirische Widerlegung)
- sowie die mit einem objektiven Modell unvereinbare Willkür auf Grund zu hoher Freiheitsgrade bei der Parameterschätzung für das sogenannte „Marktmodell“.
Dass weder die DCF- noch die Realoptionsmodelle in der Lage waren, den amerikanischen und diesen wiederum vertrauenden europäischen Banken Frühwarnhinweise auf die mangelnde Werthaltigkeit ihrer Investitionsobjekte zu geben, kann nicht allein mit Fehlprognosen begründet werden, die bei jeder Methode auftreten können. Vielmehr wirkt die den neoklassischen Modellen zugrundeliegende Ideenwelt als Krisenverstärker, wie im Folgenden ausgeführt werden soll.
Angelsächsische Bewertungslehre als Finanzkrisenverstärker
Apologeten der reinen angelsächsischen Lehre werden gegen die angeführte Modellkritik einwenden, dass Kapitalwert- oder Ertragswertrechnungen auf Basis der deutschen Modellschule ebenfalls in die Katastrophe geführt hätten. Diese Argumentation trifft insofern durchaus zu, als gegen krasse Fehlprognosen und Missgriffe auf Grund von verantwortungsloser Raffgier, Herdenverhalten oder krimineller Energie kein theoretisches Modell schützen kann.
Grundfalsch ist jedoch die Gleichsetzung der den Ansätzen zugrunde gelegten Modellwelten: Die Modelle der deutschen Schule definieren den Wert schon im Ansatz als Bandbreite und betonen die große Streubreite möglicher Ergebnisse in Abhängigkeit von den dem Modell inhärenten subjektiven Prämissen. Allein schon dieses Denken in Bandbreiten schützt davor, bei einem Bewertungsobjekt die Möglichkeit schlechter Zukunftsentwicklung und die sich daran knüpfenden Konsequenzen von vornherein kritiklos auszublenden und in Verkennung der Tatsachen wie mit sicheren Zahlen zu rechnen.
Die nur scheinbar sichere Basis eines modelltheoretischen Punktwerts bietet im Gegensatz dazu gerade dem oberflächlichen, theoretisch wenig versierten Betrachter die trügerische Gewissheit, dass ein mit nobelpreisgekrönten Ansätzen wie CAPM, Modigliani/Miller und Black/Scholes errechneter Gleichgewichtswert so belastbar sei, als handele es sich um eine in dieser Höhe nachweisbar gültige Zahl.
Hinzu kommt, dass die diesen Modellen inhärente Gleichsetzung von Wert und Preis als Handlungsempfehlung impliziert, ein Kauf zum „Marktwert“ sei ohne Weiteres vorteilhaft oder jedenfalls nicht nachteilig. Was immer am Markt zu einem solchen Gleichgewichtspreis gehandelt wird, ist auch bedenkenlos kaufbar, denn es ist ja angeblich „fair bewertet“. Damit gibt es in dieser Modellwelt kein Argument mehr, eine „Börsenblase“ als solche zu erkennen und sich aus ihr mit subjektiv abweichender Bewertungslogik herauszuhalten [7, S. 9 f., 150, 168, 255-258].
Dieses „gläubige Vertrauen“ in Marktpreise erinnert fatal an die vor fünfzehn Jahren in Deutschland geführte Literaturdiskussion um die sogenannte „Marktzinsmethode“. Deren Vertreter argumentierten ebenfalls, man müsse der Bewertung jeweils die gesamte aktuelle Zinsstruktur des Marktes zugrunde legen, aber nicht vornehmlich seine eigenen subjektiven Erwartungen hinsichtlich des Investitionsobjekts sowie der ebenfalls unsicheren Opportunitätszinsentwicklung [8, S. 269-278; 7, S. 229-231].
Unvollkommene Märkte als Realität
Im Gegensatz zur „objektiven“ angelsächsischen geht die subjektive deutsche Bewertungstheorie von der Existenz unvollkommener Absatz-, Beschaffungs- und Kapitalmärkte aus. Ein unvollkommener Markt [20, S. 1] zeichnet sich dadurch aus, dass mindestens eine der zu Beginn des Beitrags erwähnten Bedingungen vollkommener Märkte nicht erfüllt ist. In der Realität
- werden für gewöhnlich verschiedene Varianten einer Produktart gehandelt (sachlich heterogenes Gut infolge einer Produktdifferenzierung),
- können die einzelnen Anbieter (Nachfrager) beim jeweiligen Nachfrager (Anbieter) unterschiedlich beliebt sein,
- mag es potenzielle Marktpartner in der Nachbarschaft und in der Ferne geben und/oder
- werden bestimmte Kunden womöglich schneller bedient.
Sachliche, persönliche, räumliche und zeitliche Präferenzen eröffnen in dieser Situation einen Spielraum für Preisdifferenzierungen, weil sich der Wert des Gutes jetzt nur noch nachfragerspezifisch in Höhe des individuellen Grenznutzens ergibt. An die Stelle des „objektiven Marktwerts“ für ein in jeder Hinsicht homogenes Gut treten nunmehr viele subjektive Werte für das jetzt heterogene (oder nur aus Kundensicht als heterogen wahrgenommene) Gut. Transaktionskosten, begrenzte Marktübersicht und endliche Reaktionsgeschwindigkeit der Nachfrager erlauben Preisdifferenzierungen selbst im Falle eines gänzlich homogenen Gutes.
Der unvollkommene Kapitalmarkt
Güter des Kapitalmarktes sind Zahlungsströme, die von Investoren durch Zahlung eines Marktpreises erworben werden. Bei einer gewöhnlichen (Finanz-)Investition wird zum Zeitpunkt t = 0 eine Auszahlung in Erwartung künftiger Einzahlungen (Rückflüsse) geleistet. Für den Verkäufer des Zahlungsstroms ergibt sich damit eine Finanzierung; er erhält in t = 0 eine Einzahlung und verpflichtet sich zu Auszahlungen in der Zukunft.
Da niemand die Zukunft verlässlich und vollständig vorherzusehen vermag, sind Zeitpunkt und Höhe der künftigen Zahlungen unsicher. Jeder Marktteilnehmer macht sich, seinen individuellen Zukunftserwartungen gemäß, sein eigenes Bild von der Qualität der unsicheren Zahlungsströme. Dieses Bild wird auch durch die heterogene Bonität der Kapital nachfragenden bzw. die Seriosität der Kapital anbietenden Wirtschaftssubjekte geprägt, und zwar in Abhängigkeit von der individuellen Risikopräferenz des Betrachters. Informationsasymmetrien zwischen Kapitalanbietern und -nachfragern lassen das gegenwärtige und künftige Marktgeschehen noch undurchsichtiger werden.
In dieser Situation ist es nur natürlich, Finanzgüter in Abhängigkeit von der subjektiv wahrgenommenen Gesamtlage individuell auf den jeweiligen Marktpartner zuzuschneiden, wobei auch persönliche Präferenzen eine Rolle spielen können. Die resultierende Konditionenvielfalt führt zu heterogenen Finanzgütern und damit zu Preisdifferenzierungen infolge subjektiver Grenznutzen. Transaktionskosten zementieren die Unvollkommenheit der Finanzgütermärkte [20, S. 2; 8, S. 131-135].
Realitätsnahe subjektive deutsche Bewertungslehre
Eine Bewertung beliebiger Ressourcen - seien es Realgüter wie Sachinvestitionen oder Finanzgüter wie Kredite, seien es einzelne Produktionsfaktoren wie Rohstoffe und Betriebsmittel oder Faktorbündel wie Produktionsbetriebe und ganze Unternehmen - muss also grundsätzlich dem Umstand Rechnung tragen, dass alle Märkte in der Realität unvollkommen sind und dass infolgedessen der Preis einer Ressource nur im Ausnahmefall mit ihrem individuellen Wert aus Sicht eines spezifischen Marktteilnehmers übereinstimmen wird [22, S. 23-27; 21, S. 486-488, 503].
Dabei ist das Auseinanderfallen von gezahltem Marktpreis und subjektivem Ressourcenwert Grundvoraussetzung für das Zustandekommen jeglicher Transaktionen. Nur wenn der Kaufpreis nicht höher (der Verkaufspreis nicht niedriger) als der Wert des Gutes aus Sicht des Nachfragers (Anbieters) ist, kann es zu einem Kauf (Verkauf) von Faktoren, Faktorbündeln, Produkten oder Liquidität kommen. Kauf- und Verkaufs- und damit auch Investitions- und Finanzierungsentscheidungen setzen folglich eine subjektive betriebswirtschaftliche Bewertung voraus, die sowohl die individuelle Zielsetzung als auch das individuelle Entscheidungsfeld des jeweiligen Bewerters explizit berücksichtigt.
Hierzu ist der betriebsindividuelle Grenznutzen des zu bewertenden knappen Gutes in seiner Grenzverwendung zu bestimmen [1, S. 25 f., 30-37]. Dieser subjektive Grenznutzen markiert die Preisobergrenze bei einem Ressourcenkauf und die Preisuntergrenze bei einem Ressourcenverkauf und kann folglich auch als subjektiver Entscheidungswert, als subjektive „Grenze der Konzessionsbereitschaft“ [16, S. 11; 17, S. 8, 51, 130] in Preisverhandlungen oder eben als subjektiver Grenzpreis bezeichnet werden.
Jede zielorientierte Bewertung knapper Ressourcen entspricht also einer subjektiven Grenzpreisbestimmung, die auf Grund der zwischen den betrieblichen Entscheidungsbereichen bestehenden Wechselwirkungen integriert erfolgen muss. Dabei sind die Grenzen zwischen einer integrierten Unternehmensplanung und einer integrierten Ressourcen- oder Unternehmensbewertung fließend, weil sich ohne eine gleichzeitige Betrachtung aller Handlungsalternativen eines Unternehmens die Grenzverwendung des zu bewertenden Gutes nicht ermitteln lässt.
Zweistufiges Bewertungsverfahren
Die soeben skizzierte bewertungstheoretische Grundidee lässt sich unter Verwendung des zweistufigen Ansatzes nach Jaensch und Matschke realisieren [11; 12; 15; 16], der durch das Zustands-Grenzpreismodell (ZGPM) konkretisiert [7, S. 43?127, 247-254; 17, S. 201-235] und später realgüterwirtschaftlich fundiert wurde [6; 21; 23; 24].
In einem ersten Schritt wird ein sogenannter Basisansatz aufgestellt und gelöst, um den optimalen Investitions- und Finanzierungsplan bzw. den optimalen Unternehmensplan unter Vernachlässigung des zu bewertenden Gutes oder Zahlungsstroms zu ermitteln.
In einem zweiten Schritt erfolgt mit dem Bewertungsansatz im Falle eines Kaufs oder einer Investition (eines Verkaufs oder einer Finanzierung) die Bestimmung der Preisobergrenze (Preisuntergrenze) des zu beurteilenden Gutes oder Zahlungsstroms unter der Voraussetzung, mindestens das Zielerreichungsniveau aus dem Basisprogramm wieder zu erlangen und sich somit nicht schlechter zu stellen als bei Unterlassung des Geschäfts. Der für ein Gut (einen Zahlungsstrom) höchstens zu zahlende Kaufpreis (Auszahlungsbetrag zum Zeitpunkt 0) oder mindestens zu fordernde Verkaufspreis (Einzahlungsbetrag zum Zeitpunkt 0) lässt sich aus einem Bewertungsansatz gewinnen, der das Entscheidungsfeld des Basisansatzes um die Konsequenzen aus dem Kauf bzw. Verkauf sowie eine Restriktion zur Sicherung des alten Mindestzielniveaus erweitert.
Rückbesinnung auf ureigene Wurzeln
Kein theoretisches Modell vermag die Realität allumfassend abzubilden, die Zukunft zweifelsfrei vorherzusagen oder menschliches Fehlverhalten auszuschließen - auch nicht die Modelle der modernen deutschen betriebswirtschaftlichen Bewertungstheorie. Doch deshalb dürfen theoretische Modelle noch lange nicht absurde Prämissenwelten widerspiegeln, den Bezug zur Realität vermissen lassen und menschliches Fehlverhalten geradezu provozieren, so wie es die neoklassische „marktorientierte“ Bewertungstheorie tut, die gegen jeden „gesunden Menschenverstand“ (denn „das ist BWL“!) keinen Unterschied zwischen Wert und Preis macht. Diese in der herrschenden angelsächsischen Kapitalmarkttheorie angelegte Blindheit für die Unterscheidung von Wert und Preis wirkte sich in der Finanzkrise von 2008 geradezu „tödlich“ aus: Sie fungierte erst als theoretische Begründung und später nur noch als schale Entschuldigung für alle Entscheidungsträger besonders in Banken, die in großem Umfang wertlose Papiere gekauft hatten, bloß weil für diese „Schrottpapiere“ bis zum Platzen der Immobilienblase hohe Marktpreise an den Börsen bezahlt wurden.
Nur eine Bewertung unter Berücksichtigung der individuellen Zielsetzungen und Entscheidungsfelder der Bewertungssubjekte führt zu subjektiven Entscheidungswerten, die einem gleichgerichteten „Marktverhalten“ nahezu automatisch entgegenstehen. Aus den individuellen Wünschen und Bedürfnissen der Marktteilnehmer resultieren unterschiedlich hohe subjektive Grenzen der Konzessionsbereitschaft in Preisverhandlungen, die sich in individuellen Verhaltensmustern niederschlagen und weder gesamtwirtschaftliche Auf- noch Abwärtsspiralen induzieren. Wer sich die Zusammensetzung der amerikanischen Immobilien-Schrottpapiere näher angeschaut und sie wegen der zahlungsschwachen US-Privatschuldner subjektiv als schlecht bewertet hätte, statt blind und kritiklos den angelsächsischen „Marktwert“ (also Börsenpreis) auch für sich zu übernehmen, hätte nicht zum Börsenpreis gekauft und damit an der Börsenblase nicht teilgenommen. Somit ist die subjektive deutsche im Vergleich zur „objektiven“ angelsächsischen Bewertungstheorie zumindest kein Katalysator zerstörerischer Finanzkrisen: Die deutsche Bewertungstheorie lässt vom Börsenpreis abweichende subjektive Wertvorstellungen nicht nur zu, sondern betrachtet die Abweichung zwischen Wert und Preis als etwas Selbstverständliches. Dass auch subjektive Bewertungen falsch liegen können, ist natürlich ebenso selbstverständlich. Aber es fehlt dabei der systematische Bewertungsfehler, wie ihn die angelsächsische Theorie mit ihrer fatalen Verschmelzung von Wert und Preis begeht, die jeden individuellen Spielraum nimmt, einem überhöht erscheinenden Börsenkurs zu misstrauen.
Mithin ist es ratsam, sich auf die ureigenen deutschen wirtschaftswissenschaftlichen Wurzeln zurückzubesinnen, statt weiter blind dem theoretisch leicht angreifbaren und in der Praxis jetzt verheerend gescheiterten angelsächsischen „Vorbild“ zu folgen.
Literatur
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(Business + Innovation, 01 / 2011, S. 52-59)
Univ.-Prof. Dr. habil. Thomas Hering
ist Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Unternehmensgründung und Unternehmensnachfolge, an der FernUniversität in Hagen.
E-Mail: hering@fernuni-hagen.de
Univ.-Prof. Dr. habil. Roland Rollberg
ist Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Produktionswirtschaft an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald.
E-Mail: rororo@uni-greifswald.de
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