Die Argumentationsfunktion der funktionalen Unternehmensbewertung ist bis heute die am wenigsten durchdrungene Hauptfunktion der Unternehmensbewertung. Diese theoretische Vernachlässigung ist wohl auf den Aspekt zurückzuführen, dass mit Hilfe des durch die Argumentationsfunktion gebildeten Argumentationswerts eine Änderung des Verhaltens oder wenigstens der Sichtweise des Verhandlungspartners anzustreben ist. MATSCHKE / BRÖSEL:
Als Argumentationswert wird nicht eine einzelne Wertgröße, sondern die Gesamtheit von Begründungen (Argumenten) bezeichnet, die eine Verhandlungspartei mit dem Ziel der Verbesserung der eigenen Verhandlungsposition oder der Schwächung der Position des Verhandlungspartners und somit der Erreichung eines günstigeren Verhandlungsergebnisses selbst vorträgt oder auch vortragen läßt.
(Matschke, Manfred Jürgen / Brösel, Gerrit: Unternehmensbewertung, 2. Auflage, Wiesbaden 2006, S. 503)
Das Ziel, Verhaltensänderungen seines Verhandlungspartners zu bewirken, setzt Kenntnisse über die Bestimmungsgründe des tatsächlichen menschlichen Entscheidungsverhaltens voraus; das idealtypische Konzept der Annahme rationalen Verhaltens ist für diesen Zweck ungeeignet. Erfahrungsgemäß bewegt sich das menschliche Entscheidungsverhalten auf einer stetigen Skala von "beschränkt rational" bis "vorhersehbar irrational".
Angesichts dessen rücken beispielsweise experimentelle Untersuchungen des beschränkt rationalen Verhaltens in Finanzmärkten in den naturgemäß noch sehr weiten Blickwinkel des Interesses. Das BonnEconLab, Laboratorium für experimentelle Wirtschaftsforschung der Universität Bonn, hat kürzlich ein gleichnamiges Forschungsprojekt begonnen:
Im Rahmen des Forschungsprojekts soll das Anlegerverhalten auf Finanzmärkten im Laboratorium untersucht werden. Im Vergleich zu früheren Laboratoriumsuntersuchungen betrachten wir in unserer Studie den Finanzmarkt nicht losgelöst von der Realwirtschaft, sondern betten ihn in eine stochastisch wachsende Volkswirtschaft ein. Die Angebotsseite der Laboratoriumsökonomie wird durch einen stochastischen Prozess simuliert. Die zugrunde liegende Wachstumsverteilung ist den Akteuren der Laboratoriumsökonomie bekannt. Da das realisierte Wachstum der Vorperiode bekannt ist, lässt sich in jeder Periode die Entscheidung berechnen, die den erwarteten Unternehmungsgewinn maximiert.
Die Produktionsentscheidungen der Manager führen zu Gewinnen oder Verlusten in der Unternehmung. Entstandene Gewinne werden teils als Dividenden an die Anteilseigner ausgeschüttet, der Rest verbleibt in der Unternehmung. Die Anteilseigner der Unternehmung werden durch Probanden repräsentiert, die Portfolioentscheidungen treffen. Diese haben verschiedene Möglichkeiten Kapital anzulegen und aufzunehmen: Sie können in Aktien investieren oder liquide Mittel zum Anlagezins im Depot halten; sie können ihr Depot beleihen, sich verschulden, und Shortpositionen in Aktien eingehen. Die Anleger erhalten weitgehende Informationen über die in der Ökonomie bestehenden Unternehmungen: Ihnen liegen die Bilanzen, die Finanzkennzahlen (Multiples) und die historischen Aktienkurse vor.
Die Probanden in unserem Laboratoriumsmarkt haben vergleichsweise umfangreiche Informationen und vielfältige Anlagemöglichkeiten. Dennoch hat die Laboratoriumsökonomie eine wohl definierte analytische Lösung. Aufgrund des Modells können wir beobachtete Abweichungen vom Kapitalmarktmodell CAPM und das Auftreten von Spekulationsblasen quantifizieren sowie Verhaltensanomalien identifizieren. Darüber hinaus erwarten wir aus den experimentellen Ergebnissen Aufschluss, inwiefern historische Kurse und fundamentale Daten für die Marktbewertung relevant sind und inwieweit kursrelevante Informationen den Aktienkurs bestimmen.
Im Rahmen des Projekts testen wir die Effizienz der zwei Marktinstitutionen Kassamarkt und Doppelauktion. Beide Institutionen finden an empirischen Finanzmärkten Anwendung. In experimentellen Studien wurden in der Doppelauktion effiziente Bewertungen von Lotterien mit bekanntem Risiko erzielt. Leider gibt es keine analytische Lösung des Doppelauktionsmodells. Bei gleicher Effizienz wäre daher die Anwendung des Kassamarkts zu bevorzugen.
Einen weiteren Schwerpunkt des Forschungsprojekts bildet die Bemessung der Auswirkung von Transaktionskosten und Ertragssteuern auf Volumina und Volatilität. In der Theorie werden diese Kostenfaktoren meist vernachlässigt. Besonders hinsichtlich der in Deutschland anstehenden Einführung der Abgeltungssteuer scheint uns die Analyse dieser Effekte sinnvoll.
Das herausragende Ziel unseres Forschungsprojekts ist letztendlich die Formulierung einer deskriptiven, verhaltensökonomischen Theorie der Unternehmensbewertung.
An diesem Projekt beteiligt sind Reinhard SELTEN, Tibor NEUGEBAUER und Simon ZEHNDER. BonnEconLab wurde 1984 von Nobelpreisträger Reinhard SELTEN gegründet.
Exkurs "Rationalität":
In der ökonomischen Theorie ist die Auffassung vorherrschend, dass das wirtschaftliche Verhalten durch Optimierungsansätze beschrieben werden kann. Es werden unbegrenzte Denk- und Rechenfähigkeiten unterstellt. Die experimentelle Forschung der letzten Jahrzehnte hat deutlich gezeigt, dass dieser Ansatz nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Es ist das Ziel des Projekts, eine wirklichkeitsnähere Theorie der eingeschränkten Rationalität zu entwickeln. Der Ausgangspunkt ist die Annahme, dass Menschen weder über eine konsistente Präferenzordnung verfügen noch über die Informationsverarbeitungskapazität für vollständige und konsistente Wahrscheinlichkeitsurteile. Die angestrebte Theorie wird daher nicht-optimierendes Verhalten beschreiben, das auf Prozeduren gestützt ist, deren einzelne Schritte durchaus vernünftig sind. Im Laufe des Projektes werden fünf Problembereiche untersucht werden: Zielbildung, Anspruchsanpassung, qualitatives Schliessen, fallbasierte Entscheidung und innere Konflikte. Die an die Ziele gerichteten Ansprüche werden durch Anspruchsanpassung an die Entscheidungsergebnisse angepasst. Die Ziel- und Anspruchsbildung wird auf qualitative mentale Modelle gestützt. Eingeschränkt rationale Entscheidung beruht auf Fallunterscheidung. In den einzelnen Fällen werden unterschiedliche Prozeduren verwendet. Die Motivation für eingeschränkt rationale Entscheidungen beruht auf emotionalen Antrieben, die sich im Konflikt miteinander befinden können. Es ist daher wichtig, die Rolle dieser inneren Konflikte im Entscheidungsprozess zu untersuchen. Die theoretische Forschung soll auf umfangreiche experimentelle Untersuchungen gestützt werden, die am Laboratorium für experimentelle Wirtschaftsforschung der Universität Bonn stattfinden werden.(Akademieprojekt Rationalität im Lichte der experimentellen Wirtschaftsforschung, Leiter: Reinhard SELTEN)
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