Montag, 27. Juni 2011

Ein Ordnungsrahmen für das Finanzsystem

Elemente einer konsistenten Ordnung für das Finanzsystem

Das Finanzsystem bedarf eines Ordnungsrahmens, der sich auf das Prinzip der Selbstverantwortung stützt. Dies setzt eine individuelle und gesellschaftliche Akzeptanz der Tatsache voraus, dass Gewinnchancen und Verlustrisiken eine untrennbare Einheit bilden. Hierzu gehört eine Risikokultur, in der Risiken bewusst und informiert eingegangen werden und Gewinne grundsätzlich aus einer nachhaltigen Leistung stammen. Eine so verstandene Risikokultur braucht eine feste makroökonomische Grundlage durch stabiles Geld und tragfähige öffentliche Finanzen. Stabiles Geld wird durch die Unabhängigkeit der Zentralbanken und ihr Mandat zur Wahrung der Geldwertstabilität unterstützt. Um fiskalische Disziplin zu sichern, sind strikte Fiskalregeln aufzustellen. Die aktuelle Reformagenda setzt bei den Banken an, weil sie eine zentrale Rolle im Finanzsystem spielen. Doch wäre nichts gewonnen, wenn dadurch Aktivitäten in ein Schattenbanksystem abwanderten. International besteht Konsens, einen makroprudenziellen Ansatz zu verfolgen. Zentralbanken haben darin eine herausgehobene Stellung. Ein zum heutigen Aufgabenkatalog der Bundesbank hinzutretendes gesetzliches Mandat für makroprudenzielle Überwachung und Politik im Kreditwesengesetz würde ihre Rolle in der Finanzstabilitätspolitik stärken und absichern. 


Die Finanzkrise hat sowohl Inkonsistenzen im einzelwirtschaftlichen Entscheidungskalkül als auch gravierende Funktionsmängel im Finanzsystem selbst offenbart. Angesichts der hohen volkswirtschaftlichen Kosten der Krise wird die Rolle des Finanzsystems im Wirtschaftsprozess zunehmend kritisch hinterfragt. Dabei ist festzustellen, dass die Eindämmung und Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise die Balance zwischen Markt und Staat deutlich verschoben hat. Für ein abschließendes Urteil dieser Entwicklung ist es sicher noch zu früh. Die Rückbesinnung auf bewährte wirtschafts- und ordnungspolitische Prinzipien sollte jedoch in einem Prozess der Neubewertung nicht zu kurz kommen.

Der in den frühen achtziger Jahren einsetzende Prozess der Liberalisierung war Ausdruck eines hohen Vertrauens in die Effizienz der Märkte bei der Allokation von Finanzmitteln und Risiken. Er bildete die Grundlage für die Freisetzung eines immensen Innovationspotenzials. In immer neuen Wellen wurden zunehmend komplexere Finanzprodukte und Finanzierungsverfahren entwickelt. In der Folge hat sich das Finanzsystem in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert. Insbesondere haben seine Größe - auch in Relation zur Realwirtschaft - und Komplexität deutlich zugenommen. Angesichts der Finanzkrise ist die Zweischneidigkeit dieser Entwicklung, die in normalen Zeiten vorteilhaft wirkt, aber auch Krisen auslösen oder verschärfen kann, ins Blickfeld gerückt. Hinzu kommt auch die Erfahrung, dass Regulierung stets unvollständig ist. Zudem ist der Staat nicht nur ein neutraler Setzer des Rahmen- und Regelwerks, sondern in seiner Funktion als größter Schuldner und über die breite Wirkung der Finanzpolitik auch ein finanzsystemrelevanter Akteur.


Die schnelle und umfassende internationale Reaktion von Regierungen und Notenbanken war in der Krise erforderlich und insgesamt auch erfolgreich. Auf Dauer ist ein übermäßiges staatliches Eingreifen in Wirtschaftsprozesse jedoch nicht wünschenswert. In einer Marktwirtschaft ist dem Prinzip der Selbstverantwortung Vorrang einzuräumen. Dafür ist ein adäquater Ordnungsrahmen notwendig, zu dem auch ein stimmiges, anreizkompatibles Regelwerk gehört, das über die reine Banken- oder Versicherungsregulierung hinausgeht. Unverzichtbarer Teil dieses Ordnungsrahmens ist Transparenz. So ist Klarheit über die regionale und sektorale Allokation von Risiken erforderlich. Dabei müssen alle Märkte - ordentliche wie außerbörsliche - erfasst werden. Spiegelbildlich hierzu sollte Transparenz über die Risiken von Instituten geschaffen werden. Dies betrifft primär die Rechnungslegungsvorschriften. Sie sollten dabei zwischen der Informationsfunktion, die die notwendige Transparenz herstellt, und er Gewinnausschüttungsfunktion, die Einfluss auf die Risikotragfähigkeit nehmen kann, deutlich trennen. Diese Informationen bilden die Grundlage für staatliche Aufsicht und staatliches Handeln sowie die Entscheidungen von Marktakteuren. Letztere müssen schließlich konsequent für ihr Handeln haften und sollten daher grundsätzlich nicht auf angemessene Kontroll- oder Eingriffsrechte verzichten. Rückblickend ist zu konstatieren, dass Politik und Regelwerk Fehlanreize gesetzt oder toleriert haben, die mit in die Krise führten.

Die geplante Einführung eines speziellen Bankeninsolvenzrechts, das international kompatibel und mit frühzeitigen aufsichtlichen Eingriffsrechten ausgestattet ist, stellt ein wichtiges Element bei der Weiterentwicklung des Ordnungsrahmens dar. Ebenso bedeutsam ist, dass die implizite Absicherung durch den Steuerzahler zu einem Kostenfaktor für systemrelevante Institute wird, zum Beispiel durch Eigenkapitalzuschläge. Von den Unterstützungsmaßnahmen für den Finanzsektor haben aber nicht nur die Eigenkapital-, sondern auch die Fremdkapitalgeber profitiert. Letztlich ist eine Haftung, die der Kapitalstruktur folgt, erforderlich, um die volkswirtschaftliche Kapitalallokation nicht durch falsche Anreize zu verzerren.


Die Korrektur von Fehlanreizen und die Stärkung der Widerstandsfähigkeit setzen angesichts der zentralen Rolle von Banken im Finanzsystem bei diesen Instituten an. Doch wäre nichts gewonnen, wenn Regulierung umgangen würde und Risiken in den weniger oder unregulierten Bereich abwanderten, der oft als Schattenbankensystem bezeichnet wird. Deshalb muss die Forderung der G20, dass kein systemisch relevantes Segment oder Produkt sowie kein systemisch relevanter Teilnehmer des Finanzmarktes unüberwacht beziehungsweise unreguliert bleiben darf, zügig und konsequent international umgesetzt werden. 


Die jetzt begonnenen Korrekturen werden ihren Lackmustest aber erst in der Zukunft erfahren. So muss eine Regulierung ihre bindende Wirkung in einer ökonomischen Hochphase entfalten, in der typischerweise die Neigung zum Eingehen hoher oder gar exzessiver Risiken besonders ausgeprägt ist. Zudem ist zu bedenken, dass Regulierung Grenzen hat und notwendigerweise unvollständig ist. Typischerweise ist sie rückblickend gestaltet und kann mit den dynamischen Veränderungsprozessen gerade im Finanzsektor nicht immer Schritt halten. Regulierung definiert vorab die Gruppe, die sie erfasst, und damit zwangsläufig auch jene, die außerhalb des Zugriffs bleiben. Zudem kann Regulierung niemals explizit alle künftig möglichen Zustände berücksichtigen. Und vor allem ist das optimale Ausmaß zwischen den beiden Extremen einer lückenhaften, lockeren Regulierung einerseits und einer strangulierenden Überregulierung andererseits schwer zu bestimmen.

Die Grundlagen für ein stabiles Finanzsystem müssen deshalb breiter angelegt werden. Wesentliches Element ist, dass alle Marktakteure - Einzelne wie Institute - Risiken bewusst eingehen und diese steuern. Dies beinhaltet einerseits die informierte und wissentliche Entscheidung über Art und Umfang der eingegangenen Risiken. Deshalb sind Aufklärung und Bildung in Finanzfragen wichtig. Andererseits umfasst dies die Fähigkeit und die Bereitschaft sowie letztlich auch die bislang nicht immer tatsächlich gegebene rechtliche Verpflichtung, die übernommenen Risiken selber zu tragen. Entscheidend ist also die breite Akzeptanz einer Risikokultur, in der Gewinne und Verluste als untrennbare Einheit verstanden und behandelt werden. Erst diese Aktzeptanz der Einheit von Chancen und Risiken führt dazu, dass Risiken effizient verteilt werden, was für die Dynamik einer Volkswirtschaft unerlässlich ist. Eine breite gesellschaftliche Akzeptanz setzt wiederum voraus, dass die Risiken bewusst und informiert eingegangen werden und dass die Gewinne auf einer nachhaltigen Leistung beruhen. Eine so verstandene Risikokultur braucht eine feste makroökonomische Grundlage durch stabiles Geld und tragfähige öffentliche Finanzen.


Die Krise hat Unzulänglichkeiten in der Haushaltspolitik vieler Länder schonungslos offengelegt. Es ist daher erforderlich, das Vertrauen in die Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte nachhaltig zu stärken. Fiskalische Disziplin ist genauso wie stabiles Geld ein makroökonomisches Pendant zu einer privatwirtschaftlichen Risikokultur. Das Regelwerk für stabiles Geld sieht vor allem die Unabhängigkeit der Zentralbanken und deren Mandat zur Sicherung der Geldwertstabilität vor.

Das Regelwerk für fiskalische Disziplin ist hingegen noch zu härten. Strengeren europäischen Fiskalregeln kommt hierfür eine besondere Bedeutung zu. Auch ein Krisenbewältigungsmechanismus für Staatsschulden sollte in dieser Hinsicht disziplinierend wirken. Ein neuer Krisenmechanismus muss den Europäischen Stabilisierungsmechanismus ersetzen. Er hat dabei den Grundsatz des Ausschlusses der Haftung der Union oder ihrer Mitgliedstaaten zu beachten. Das Prinzip der eigenverantwortlichen nationalen Fiskalpolitiken stellt einen Eckpfeiler der Europäischen Währungsunion dar, die keine Transferunion und keine Haftungsgemeinschaft ist. Ein Krisenmechanismus könnte im absoluten Ausnahmefall einer Gefährdung der Stabilität der Währungsunion an strikte Konditionen geknüpfte und eng befristete staatliche Hilfeleistungen vorsehen. Dabei darf er die Anreize für die Finanzpolitik nicht verzerren und die privaten Gläubiger nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Ein transparentes und berechenbares Verfahren, das vor allem auch ein umfassendes und glaubwürdiges Konsolidierungs- und Reformprogramm sicherstellt, könnte im Zusammenspiel mit einer verbesserten Finanzmarktregulierung das Risiko einer systemischen Krise eng begrenzen. Auch relativ weitgehende Sanktionen sollten ein wichtiger Bestandteil der Neuregelung sein.


International besteht Konsens, dass zur Wahrung der Finanzstabilität ein makroprudenzieller Analyse-, Regulierungs- und Überwachungsansatz erforderlich ist. Zentralbanken haben hierfür eine herausgehobene Stellung, da sie aufgrund ihrer traditionellen geldpolitischen Analyse über profunde Finanzmarktexpertise verfügen. Oft sind sie auch in die Finanzaufsicht eingebunden. Mit einem gesamtheitlichen makroprudenziellen Ansatz wachsen die Erwartungen an die Zentralbanken. So steigen die Anforderungen an die Analyse; sie konzentriert sich nicht mehr allein auf Konjunktur und monetäre Veränderungen, sondern bezieht explizit auch die Stabilität des Finanzsystems mit ein. Damit steht die Analyse auch in der Verantwortung, Fehlentwicklungen im Finanzsystem so frühzeitig zu identifizieren, dass diese korrigiert werden können, bevor sie Schaden anrichten. Zugleich erwächst ein erhöhter internationaler Koordinierungs- und Abstimmungsbedarf, damit ein nationaler makroprudenzieller Ansatz auf international offenen und vernetzten Finanzmärkten die gewünschte Wirkung entfalten kann. Derzeit wird in verschiedenen internationale Foren unter aktiver Beteiligung der Bundesbank ein Diskurs über die Auswahl und den möglichen Einsatz makroprudenzieller Instrumente geführt.

Die Bedeutung der Finanzstabilität und die besondere Stellung der Zentralbanken lasses es angeraten erscheinen, in konsistenter Ergänzung der Regelungen auf europäischer Ebene den Auftrag nationaler Notenbanken zu erweitern. Ein zum heutigen Aufgabenkatalog der Bundesbank hinzutretendes gesetzliches Mandat für makroprudenzielle Überwachung und Politik im Kreditwesengesetz würde ihre Rolle in der nationalen, europäischen und internationalen Stabilitätspolitik stärken und absichern.

(Quelle: DEUTSCHE BUNDESBANK, Finanzstabilitätsbericht 2010, S. 141-144)




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