Freitag, 30. Juli 2010

"Marktwertorientierte" Bewertung


Bei der Unternehmensbewertung sind Wert und Preis des zu bewertenden Unternehmens strikt auseinander zu halten.



Allgemein formuliert:

Als Wert lassen sich die möglichen Einigungsbedingungen zwischen dem präsumtiven Käufer und dem potenziellen Verkäufer des zu bewertenden Unternehmens bezeichnen, die zum erreichbaren Nutzen ohne Einigung führen.

Der Preis ist in diesem Zusammenhang die tatsächliche Einigungsbedingung zwischen Käufer und Verkäufer. Er bildet die Realität ab und ist objektiv, weil er für beide Konfliktparteien gilt.



Der von den finanzierungstheoretisch fundierten Bewertungsverfahren gesuchte "intrinsische" Wert eines Unternehmens im Sinne eines "Marktwerts" hat mit dem Begriffsinhalt des Preises nichts zu tun. Es ist geradezu paradox, dass in diesen Bewertungsansätzen ein Marktgeschehen für Unternehmen als Ganzes simuliert wird, in welchem Wert und Preis durch Arbitrageprozesse in Übereinstimmung gebracht werden. Wären Wert und Preis eines Unternehmens tatsächlich identisch, gäbe es weder für den präsumtiven Käufer noch für den potenziellen Verkäufer eines Unternehmens irgendeinen Anreiz dafür, ein Unternehmen zu kaufen bzw. zu verkaufen. Diese alte Erkenntnis der Motivation für jedes Marktgeschehen geht bei den neoklassisch inspirierten Bewertungsmethoden verloren. Selbst jede Aktienkursbildung basiert auf der aus Sicht des Käufers bzw. Verkäufers bestehenden Differenz zwischen Preis und Wert.



Das idealisierte Gleichgewichtsmodell der marktwertorientierten Unternehmensbewertung ist von der funktionalen Unternehmensbewertung, die ein Entscheidungsmodell ist, abzugrenzen. Thomas HERING schreibt in diesem Zusammenhang:


Gleichgewichtsmodelle verfolgen einen anderen Zweck als Entscheidungsmodelle: Aussagen über ein Marktergebnis im Kapitalmarktgleichgewicht erfordern strenge, idealisierende Annahmen, die für eine reale Entscheidungssituation, in der es auf die individuell gegebenen Verhältnisse des Bewertungssubjekts ankommt, im allgemeinen nicht zutreffen. Über die Größe und Tolerierbarkeit des mit dem Einsatz von Gleichgewichtsmodellen als Entscheidungsmodelle begangenen Fehlers hat der gleichgewichtsorientierte Modellvereinfacher Rechenschaft abzulegen.

...

Das ureigene Anwendungsgebiet der kapitalmarkttheoretischen Unternehmensbewertung ist die Bereitstellung von Argumentationswerten. Dies wird zumindest so lange der Fall sein, bis der z.T. künstlich erzeugte Neuigkeitswert der DCF - Verfahren der Ernüchterung zu weichen beginnt und auch die meisten Verhandlungspartner erkennen, daß eine mit statistischen Tabellenkalkulationsdaten gefütterte Bewertungsformel mit ihrem rechnerisch fingierten objektiven "Marktwert" vor dem komplexen Problem der Unternehmensbewertung kapitulieren muß.




(Hering, Thomas: Unternehmensbewertung, 2. Auflage, München 2006, S. 240-242)


Die marktwertorientierten Verfahren der Unternehmensbewertung sind schlecht fundiert; sie kombinieren kurzerhand finanzierungstheoretische Modelle (Modigliani/Miller - Modell und CAPM) miteinander, deren Prämissenkataloge in einigen Punkten unvereinbar sind:



MODIGLIANI/MILLER-Modell
CAPM




Erkenntnisobjekt Unternehmen als Ganzes
eine Anteilseinheit




Betrachtetes


Unternehmensrisiko finanzwirtschaftlich
leistungswirtschaftlich




Präferenzfreiheit ja
nein




Planungshorizont unendlich
eine Periode




Den allgemeinen Hintergrund der marktwertorientierten Bewertung hellen Manfred Jürgen MATSCHKE und Gerrit BRÖSEL weiter auf:


Diese jüngere objektive Bewertungskonzeption negiert - anders als die ältere objektive Lehre - den Unterschied zwischen Wert und Preis. Obwohl zumeist übersehen, geht es im eigentlichen Sinne bei der marktwertorientierten Bewertung nicht um die Feststellung des Wertes eines Unternehmens als Ganzes, sondern um die Feststellung des Marktwertes der Handelsobjekte auf einem vollkommenen und vollständigen Kapitalmarkt bei Vollständigkeit des Wettbewerbs, auf dem die subjektiven Werte der Marktteilnehmer mit dem resultierenden objektiven Preis übereinstimmen. Bei einem börsenmäßig organisierten Kapitalmarkt sind die Handelsobjekte grundsätzlich einzelne in Wertpapieren verbriefte Anteile am Eigen- oder Fremdkapital eines börsengängigen Unternehmens. Der Marktwert des Unternehmens wird daher als Summe aus den Marktwerten der Handelsobjekte hergeleitet. Begrifflicher Ausgangspunkt bei der marktorientierten Bewertung ist also der Wertbegriff im Sinne von Tauschwert. Der Marktwert des Eigenkapitals einer börsennotierten Aktiengesellschaft entspricht ihrem Börsenkurswert, der sich als Produkt aus Aktienanzahl und Aktienkurs ergibt.


Auf dem von den Vertretern der marktorientierten Bewertung unterstellten Markt gilt, daß homogene (gleichartige) Güter zur gleichen Zeit (d.h. auf dem selben Markt) zum gleichen Preis gehandelt werden. Der Kenntnisstand aller Marktteilnehmer ist gleich; die Schlußfolgerungen aus Informationen stimmen überein. Der einzelne Marktteilnehmer hat auf diesem Markt keine Marktmacht. Sein Handeln vermag den Preis nicht zu beeinflussen; der Preis ist für ihn ein Datum, mithin nicht gestaltbar. Wert und Preis stimmen unter diesen idealen Marktbedingungen theoretisch überein. Diese Gleichgewichtstheorie basiert auf ARROW und DEBREU und ermöglicht unsichere Zahlungsströme zu bewerten, "daß für alle Marktteilnehmer unabhängig von ihrer individuellen Risikoneigung derselbe Entscheidungswert resultiert, der aus Arbitragegründen auch zum Marktpreis werden muß." Als Voraussetzung dafür müssen auf diesem Markt die restriktiven und stark idealisierten Bedingungen für eine arbitragefreie Bewertung, nämlich Vollkommenheit und Vollständigkeit des Marktes sowie Vollständigkeit des Wettbewerbs, gelten:


  1. Vollkommenheit des Marktes liegt vor, wenn alle Marktteilnehmer Kenntnis über die finanziellen Rückflüsse (Zahlungsströme) sämtlicher am Markt gehandelter Wertpapiere besitzen und diese Rückflüsse der Höhe wie der zeitlichen Struktur nach für alle Marktteilnehmer gleich sind. Alle Marktteilnehmer können jeden Zahlungsstrom (verkörpert durch die gehandelten Wertpapiere) in unbegrenztem Umfang ohne Transaktionskosten zum gleichen Preis kaufen oder verkaufen.

  2. Vollständigkeit des Marktes bedeutet, daß mit den gehandelten Wertpapieren (Zahlungsströme) durch Linearkombinationen alle möglichen Umweltzustände abgebildet werden können, so daß ein beliebiger zu bewertender Zahlungsstrom (Wertpapier) dann auf dem Markt durch die gehandelten Wertpapiere nachgebildet werden kann. Die gehandelten Wertpapiere spannen also den gesamten Umweltzustandsraum auf (sog. "Spanning - Eigenschaft").

  3. Vollständigkeit des Wettbewerbs stellt darauf ab, daß kein Marktteilnehmer Marktmacht besitzt und deshalb die Marktpreise gehandelter Wertpapiere nicht beeinflussen kann. Vielmehr agieren alle als Mengenanpasser, denn neue Zahlungsströme ändern nicht die am Markt herrschenden Preise (sog. "Competitivity - Eigenschaft"). 
Unter diesen wirklichkeitsfremden Prämissen läßt sich jeder beliebige Zahlungsstrom mit dem (ARROW - DEBREU -)Preis P* des zu seiner Nachbildung erforderlichen, aus am Markt gehandelten Wertpapieren (Zahlungsströmen) zusammengesetzten, Portefeuilles bewerten. Kein Käufer würde schließlich mehr als diesen Preis P*, den "Vollreproduktionswert" des Zahlungsstroms, zahlen, weil er für P* am Markt einen mit dem Bewertungsobjekt identischen Zahlungsstrom generieren kann. Schließlich würde sich auch kein Verkäufer mit weniger als dem "Liquidationserlös" P* zufriedengeben, weil die gesamten Rückflüsse des Bewertungsobjekts an diesem Markt zu P* absetzbar sind. Der "Vollreproduktionswert" P* wäre zugleich der Grenzpreis des Käufers und der "Liquidationswert" P* der Grenzpreis des Verkäufers. Beide stimmen in dieser (Schein-)Welt überein, so daß auch der resultierende Preis (=Marktpreis) nur deren Höhe P* annehmen kann, denn es gibt hier keinen Verhandlungsspielraum.

(Matschke, Manfred Jürgen / Brösel, Gerrit: Unternehmensbewertung, 2. Auflage, Wiesbaden 2006, S. 25-27).

Marktorientierte Bewertungsverfahren haben ihren Ursprung in den USA. Die dort stark ausgeprägte Verbreitung der marktwertorientierten Bewertungsmodelle lässt sich auf die  entsprechend große Bedeutung der Kapitalmärkte zurückführen. Dagegen ist der deutsche Kapitalmarkt stark in Marktsegmente zergliedert und auf regionale Börsenplätze verteilt. Außerdem weist der deutsche Kapitalmarkt einen vergleichsweise geringen Anteil an Streubesitz auf; hier gibt es starke Verflechtungen innerhalb der Industrie bzw. mit den Banken. Darüber hinaus gibt es einen hohen Anteil an Familienbesitz.  Diese Friktionen schränken die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes erheblich ein. Angesichts dessen ist es fraglich, ob die von den Befürwortern der marktwertorientierten Unternehmensbewertung angestrebte "Objektivität" durch Marktorientierung erreicht wird.

Im Übrigen hängt der Nutzen eines Unternehmensanteils nicht nur von seinen "objektiven" Eigenschaften ab, sondern vor allem von der subjektiven Nutzeneinschätzung des präsumtiven Käufers. Karl KÄFER hat sich bereits 1969 grundsätzlich zu diesem Thema geäußert:


Wirtschaftlicher Wert ist nicht eine gewissen Dingen oder Vorgängen innewohnende Eigenschaft, sondern eine Beziehung von Menschen zu solchen nutzbringenden Gütern und Leistungen.


Insofern können sich die Preise von Person zu Person unterscheiden, die der Einzelne bereit wäre, für einen Unternehmensanteil zu bezahlen. Im deutschen Schrifttum wird allgemein anerkannt, dass der Unternehmenswert von dem subjektiven Nutzen abhängt, den das Bewertungsobjekt (= zu bewertendes Unternehmen) stiftet. Der Wert eines Unternehmens hängt also davon ab, welchen Nutzen, d.h. welchen Beitrag zur Erreichung angestrebter Ziele, es für seine Eigentümer erbringen kann. Der Unternehmenswert ist deshalb von deren individuellen Zielsystemen abhängig; er variiert mit einem Wechsel von Person, Situation und Informationsstand. Neben dem Zielsystem, aus dem hervorgeht, was der Entscheidungsträger anstrebt, ist für die Bewertung ein Präferenzsystem notwendig, mit dem der Bewerter das Erstrebte beurteilt. 


Dagegen soll VON HAYEK bei der Präsentation der Theorie, wonach der Unternehmenswert durch Diskontierung von Zahlungsströmen ermittelt wird, bemerkt haben, er sei immer davon ausgegangen, diese Aufgabe der Bewertung von Unternehmen übernehme der Kapitalmarkt. In der Unternehmensbewertung steht man aber vor dem Problem, dass man meistens gerade den Wert von Unternehmen bestimmen soll, deren Eigentumsanteile nicht am Kapitalmarkt gehandelt werden. Gemäß der marktwertorientierten Bewertung dient jedoch auch in diesen Fällen der Kapitalmarkt als Ausgangspunkt der Bewertung, wenn versucht wird, die Bewertung, die an einem effizienten, gleichgewichtigen Kapitalmarkt stattfinden würde, in einer idealisierten Welt nachzubilden. Diese idealisierte Welt ist insbesondere durch die oben genannten Prämissenkataloge des CAPM sowie des MODIGLIANI / MILLER - Modells vergegenständlicht. 

Die Güte einer marktwertorientierten Bewertung bemisst sich danach, wie nahe diese idealisierte Welt der realen Welt der Märkte kommt. Es spricht vieles dafür, dass das ideale Gleichgewichtsmodell der marktwertorientierten Bewertung nicht im Entferntesten dazu in der Lage ist, reale Kapitalmärkte abzubilden. Zur Verdeutlichung dienen folgende Charakterisierungen realer Märkte durch Benoit B. MANDELBROT und Richard L. HUDSON:


  1. Märkte sind riskant

    Auf Finanzmärkten sind extreme Kursumschwünge die Regel und keine Abweichungen, die man ignorieren kann. Preisbewegungen folgen nicht der manierlichen Glockenkurve, wie die moderne Finanztheorie annimmt, sondern sind an einer wilden Kurve ausgerichtet, die den Weg eines Anlegers viel holpriger macht. Eine vernünftige Handelsstrategie oder Portfoliozusammenstellung müßte diese kalte, harte Tatsache in ihre Grundlagen einbauen.
    ...

  2. Störungen treten in Serien auf

    Marktturbulenzen bilden tendenziell Cluster. Für einen erfahrenen Händler ist das keine Überraschung. In den Handelsräumen überall auf der Welt sind die ersten 15 Handelsminuten jeden Morgen von entscheidender Bedeutung. Es ist der Moment, in dem erfahrene Händler, starr auf ihre Bildschirme blickend, dem Markt die Temperatur fühlen. Sie wissen, wenn ein Markt kabbelig öffnet, kann es leicht so weitergehen. Sie wissen, daß auf einen wilden Dienstag ein noch wilderer Mittwoch folgen kann. Und außerdem wissen sie, daß gerade in diesen wilden Augenblicken  - den seltenen, aber immer wieder auftretenden Krisen der Finanzwelt - die größten Vermögen der Wall Street gemacht oder verloren werden. Sie brauchen keinen Wirtschaftswissenschaftler, der ihnen all das erzählt. Doch ihre Intuition, die im Standardmodell der vollkommenen Märkte nicht enthalten ist, wird vom multifraktalen Modell vollkommen bestätigt.

  3. Märkte haben Charakter

    Kurse werden nicht allein durch Ereignisse der realen Welt, Nachrichten und Menschen in Gang gehalten. Wenn Anleger, Spekulanten, Industrielle und Banker auf einem realen Markt aufeinandertreffen, erwächst daraus eine spezielle, neue Art der Dynamik - größer und anders als die Summe der Teile. Bei Ökonomen heißt das so: Zu einem wesentlichen Teil werden Kurse durch endogene Effekte bestimmt, die den inneren Mechanismen des Marktes selbst zu eigen sind, und nicht allein durch das exogene Wirken äußerer Ereignisse. Zudem ist dieser innere Marktmechanismus bemerkenswert dauerhaft. Kriege beginnen, der Frieden kehrt zurück, Volkswirtschaften wachsen, Firmen scheitern - all das kommt und geht und beeinflußt die Kurse. Doch der grundlegende Prozeß, durch den Kurse auf Nachrichten reagieren, bleibt unverändert. Ein Mathematiker würde sagen, Marktprozesse sind "stationär". Dies widerspricht einigen Möchtegern - Reformern des Zufallspfad - Modells, die die Art, in der Volatiliät geballt auftritt, mit der Behauptung erklären, der Markt würde sich irgendwie ändern und die Volatilität deswegen variieren, weil der Mechansimus der Kursbildung sich ändert. Das ist falsch. Ein schlagendes Beispiel: Meine Analyse der Baumwollpreise während des vergangenen Jahrhunderts zeigt für die letzte Jahrhundertwende, als die Preise nicht reguliert waren, das gleiche breite Muster der Preisvariabilität wie in den dreißiger Jahren, als sie im Rahmen des New Deal reguliert waren.


  4. Märkte führen in die Irre

    Muster sind das Narrengold der Finanzmärkte. Die Macht des Zufalls reicht aus, scheinbare Muster und Pseudozyklen hervorzubringen, die für alle Welt vorhersagbar und diskontierbar erscheinen. Ein Finanzmarkt ist jedoch besonders anfällig für statistische Trugbilder dieser Art. Meine mathematischen Modelle können Tabellen erzeugen, die allein durch das Wirken von Zufallsprozessen scheinbare Trends und Zyklen zeigen. Sie würden jeden professionellen "Chartisten" an der Nase herumführen. Ebenso sind Blasen und Abstürze Bestandteil der Märkte. Sie stellen die unvermeidliche Folge des menschlichen Bedürfnisses dar, in der Regellosigkeit Muster zu finden.

  5. Die Marktzeit ist relativ

    Auf den Finanzmärkten existiert so etwas wie eine Relativität der Zeit. Ich stellte mir schon früh, doch vor allem während der Entwicklung des multifraktalen Modells vor, daß Märkte in einer eigenen "Handelszeit" funktionieren, die sich recht deutlich von der linearen "Uhrzeit" unterscheidet, in der wir normalerweise denken. Diese Handelszeit läßt die Uhr in Zeiten hoher Volatilität schneller laufen; in stabilen Perioden bremst sie sie ab.
    ...


    (Mandelbrot, Benoit B. / Hudson, Richard L.: Fraktale und Finanzen. Märkte zwischen Risiko, Rendite und Ruin. München Zürich 2007, S. 47-52)
 
 
Zarathustra ist wahrhaftiger als sonst ein Denker. Seine Lehre und sie allein hat die Wahrhaftigkeit als oberste Tugend - das heißt den Gegensatz zur Feigheit des "Idealisten", der vor der Realität die Flucht ergreift.

(Friedrich Nietzsche: Ecce Homo)



















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