Freitag, 19. November 2010

Die Argumentationsfunktion der Unternehmensbewertung


In Ergänzung zur subjektiven Bewertungslehre wurde in den 1970er Jahren die funktionale Unternehmensbewertung entwickelt. Diese Kölner Funktionenlehre oder Kölner Schule der Unternehmensbewertung wurde von MÜNSTERMANN sowie von seinen akademischen Schülern SIEBEN, BUSSE VON COLBE und MATSCHKE entworfen. Matschke hat von 1963 bis 1968 in Köln studiert. Von 1970 bis 1977 war er Assistent an dem von Eugen Schmalenbach begründeten Treuhandseminar. Hans Münstermann war sein Doktorvater.

Wesentliche Bausteine dieser Funktionenlehre waren neben Siebens nicht veröffentlichter Habilitationsschrift (Köln 1968) Matschkes Dissertation „Der Entscheidungswert der Unternehmung" (Wiesbaden 1975) und seine Habilitationsschrift „Der Arbitriumwert der Unternehmung" (Wiesbaden 1979).

Mit der Kölner Funktionenlehre ist das Spektrum der Aufgabenstellung der Unternehmensbewertung erweitert worden, indem generell gefordert wurde, dass der jeweilige Bewertungszweck die Bewertungsmethode zu bestimmen habe. So wurden einzelnen Funktionen (Aufgaben) entsprechende Zwecksetzungen (Ziele) zugeordnet. 

Hauptfunktionen sind die Entscheidungssfunktion (Beratungsfunktion), die Vermittlungsfunktion und die Argumentationsfunktion. Davon zu trennen sind Nebenfunktionen, die vor allem auf Rechtsvorschriften und nicht auf ökonomischen Fragestellungen basieren - beispielsweise Wertbestimmungen zum Zwecke der Besteuerung oder zum Ansatz von Bilanzpositionen.

Seit wenigen Tagen ist nun auch in den USA, nämlich im Journal of Business Valuation and Economic Loss Analysis, ein Überblicksartikel 


von

Manfred Jürgen MATSCHKE, Gerrit BRÖSEL and Xenia MATSCHKE

erschienen.

Aus diesem aktuellen Anlass, der sehr erfreulich ist, weil Fundamentals of Functional Business Valuation  Platz 1 der "Most Popular Papers" belegt, geben wir hier einen Rückblick auf das Jahr 1977. Seinerzeit hatte Manfred Jürgen MATSCHKE einen - wie immer gut verständlichen -  Vortrag mit dem Titel

Die Argumentationsfunktion der Unternehmungsbewertung

gehalten:

1. Die Stellung der Argumentationsfunktion im Rahmen funktionaler Unternehmungsbewertung

Ich möchte zu Ihnen über die Argumentationsfunktion der Unternehmungsbewertung sprechen. Es handelt sich auch dabei um eine Aufgabenstellung, bei der die Unternehmungsbewertung zur Fundierung von solchen Entscheidungen dient, durch die eine Veränderung der Eigentumsverhältnisse der zu bewertenden Unternehmung etwa durch Kauf / Verkauf, Fusion, Ein- oder Austritt von Gesellschaftern, herbeigeführt werden soll. Die Fundierung solcher unternehmerischen Entscheidungen ist der gemeinsame Zweck und das Bindeglied zwischen den Ihnen schon erläuterten Funktionen der Beratung und Vermittlung und der jetzt zu untersuchenden Argumentationsfunktion. Der jeweilige Gesichtspunkt, unter dem die Bewertung der Unternehmung vorgenommen wird, ist freilich bei der Argumentationsfunktion ein anderer als bei der Beratungsfunktion und bei dieser wiederum verschieden von der Vermittlungsfunktion.

Während Beratungs- und Vermittlungsfunktion zum Teil schon seit längerem und ausführlich diskutiert worden sind und zumindest im Grundsatz zwischen Theorie und aufgeschlossener Praxis immer weniger umstritten sind, gilt für die Funktion, Argumentationshilfe für Verhandlungen zu leisten, daß sie theoretisch noch weitgehend unbehandelt ist, dafür aber wahrscheinlich um so mehr praktiziert wird.

Die spezifische Aufgabenstellung einer Unternehmungsbewertung im Sinne der Argumentationsfunktion kann allgemein folgendermaßen umschrieben werden: Die Verhandlungsposition einer bestimmten Partei ist in einem Verhandlungsprozeß zu stärken. Dies kann auf verschiedene Weise geschehen. Es können Argumente geliefert werden, die den Verhandlungspartner zu Zugeständnissen oder zur Zustimmung zu einem bestimmten angestrebten Verhandlungsresultat bewegen. Die verhandelnde Partei kann aber auch durch eine Unternehmungsbewertung im Sinne der Argumentationsfunktion Informationen erhalten, mit denen die Argumente der anderen Verhandlungsseite entkräftet, deren Verhandlungsangebote mit einsichtigen Gründen zurückgewiesen oder in einem für ihre eigene Verhandlungsführung günstigen Sinne modifiziert werden können. 

Eine Unternehmungsbewertung im Sinne der Argumentationsfunktion ist folglich stets parteiisch. Denn derjenige, der das Ergebnis einer solchen Bewertung, das mit dem Begriff des Argumentationswertes der Unternehmung umschrieben werden soll, benutzt, möchte sich Vorteile verschaffen, die er ansonsten nicht oder nicht in dem Maße oder nicht so schnell erreicht hätte, oder aber er möchte mögliche Nachteile vermeiden. Gerade dieser Aspekt, mit Hilfe einer Unternehmungsbewertung eine Änderung des Verhaltens des Verhandlungspartners anzustreben, um Vorteile zu erlangen oder Nachteile abzuwenden, dürfte mit ein wichtiger Grund dafür sein, daß eine theoretische Behandlung der Argumentationsfunktion der Unternehmungsbewertung bislang weitgehend unterblieben ist und daß die Argumentationsfunktion von einem Hauch von Unseriosität umgeben zu sein scheint, die zwar nicht das Tun, aber doch das Sprechen darüber behindert.

2. Die Zurückhaltung gegenüber der Argumentationsfunktion als Erbe der objektiven Unternehmungsbewertungslehre

Diese hinsichtlich der Argumentationsfunktion der Unternehmung zur Zeit noch bestehende verbale Zurückhaltung ist meines Erachtens ein Erbe der sogenannten objektiven Unternehmungsbewertungslehre. Nach dieser Lehre sollte ein Unternehmungswert bestimmt werden, der losgelöst von den konkreten, zudem meist noch konfligierenden Interessen der Parteien einer Unternehmung zuzumessen ist. Das Problem, wie die Parteien etwa im Falle eines Kaufs / Verkaufs zu einer Einigung gelangen, ist nach dieser Lehre als betriebswirtschaftlich irrelevant einzustufen. Diese Sicht der Unternehmungsbewertung ist meines Erachtens - zumindest im Grundsatz - inzwischen weitgehend überwunden. Die Ermittlung der Eckpunkte für Verhandlungslösungen mit Hilfe einer Unternehmungsbewertung im Sinne der Beratungsfunktion und die Ermittlung eines angemessenen Einigungsvorschlages auf der Basis einer Unternehmungsbewertung im Sinne der Vermittlungsfunktion belegen dies. Denn indem Grenzen für eine Verhandlungslösung abgesteckt werden oder ein angemessener Einigungsvorschlag gesucht wird, behandelt man auch das Problem, wie Parteien zu einer Einigung gelangen. Hinsichtlich der aus diesem Problem auch ableitbaren Frage der Beeinflussung des Verhandlungspartners besteht meines Erachtens ebenfalls kein Anlaß mehr, sich der objektiven Unternehmungsbewertungslehre verpflichtet zu fühlen, das heißt, diese Frage im Rahmen funktionaler Unternehmungsbewertung auszuklammern und unerörtert zu lassen. Denn es nützt letztlich niemandem, die Augen vor dem Komplex der Beeinflussung zu verschließen und diesen Bereich weiterhin zu ignorieren. Unternehmungsbewertungen werden nun einmal auch als Argumentationshilfen benutzt - und man tut gut daran, sich dieser Tatsache in Verhandlungen, in denen Unternehmungsbewertungen eine Rolle spielen, stets bewußt zu sein.


3. Argumentationswerte in Verhandlungsprozessen


Ich hatte die Aufgabenstellung der Argumentationsfunktion der Unternehmungsbewertung allgemein mit der Stärkung der Verhandlungsposition einer Partei umschrieben. Die daran anknüpfende naheliegende Frage, in welchen Verhandlungsprozessen Argumentationswerte der Unternehmung von Bedeutung sein können, möchte ich mit der folgenden These beantworten: Der Gebrauch von Argumentationswerten und damit von Unternehmungsbewertungen zur Argumentationshilfe ist nicht auf Verhandlungen über den Preis oder über sonstige Bedingungen einer Einigung mit unternehmungsexternen Verhandlungspartnern beschränkt, sondern Unternehmungsbewertungen werden in verhandlungstaktischer Absicht auch in Verhandlungen zwischen unternehmungsinternen Verhandlungspartnern benutzt.


4. Die argumentative Nutzung von Unternehmungsbewertungen in Verhandlungen zwischen Unternehmungsinternen


Was den gerade angesprochenen internen Bezug der Argumentationsfunktion betrifft, so setzt dieser voraus, daß es sich um einen mehrgliedrigen Entscheidungsträger handelt. Unternehmungsbewertungen können dann dazu dienen, sich gegenüber übergeordneten Entscheidungsträgern - etwa gegenüber einer Konzernleitung - oder innerhalb eines Entscheidungskollektivs - etwa eines Vorstands - besser durchzusetzen und diese zu einer aus der Sicht des Argumentierenden erwünschten Entscheidung wie etwa zu einer Verhandlungsaufnahme oder zu einem Erwerb zu bewegen.


Bei einer solchen internen Entscheidungsbeeinflussung dürfte der Ansatzpunkt für eine argumentative Nutzung von Unternehmungsbewertungen insbesondere in dem erwarteten Beitrag der zu bewertenden Unternehmung zu den Unternehmungszielen liegen. Dabei kommt dem unmittelbar aus der zu bewertenden Unternehmung erwarteten Gewinnbeitrag nicht notwendig auch die größte Argumentationskraft zu, damit die gewünschte Entscheidungsbeeinflussung auch tatsächlich gelingt. Soll auch hierbei nach dem Grundsatz der aufgabenadäquaten Bewertung gehandelt werden, so wird derjenige, der eine Unternehmung mit unter dem Gesichtspunkt der internen Entscheidungsbeeinflussung bewertet, insbesondere darauf zu achten haben, daß der Beitrag zu den vom übergeordneten Entscheidungsträger oder vom Entscheidungskollektiv anerkannten Zielen entsprechend gewürdigt wird - und zwar selbst dann, wenn die Entscheidung vom Argumentierenden aus ganz anderen Gründen angestrebt wird, deren Nennung aber für die erwünschte Entscheidungsbeeinflussung nicht opportun zu sein scheint.


Neben einer Entscheidungsbeeinflussung können in unternehmungsinternen Verhandlungsprozessen herangezogene Unternehmungsbewertungen aber auch den Zweck der Abgrenzung von Verantwortlichkeiten haben. Einerseits kann beabsichtigt werden, die Verantwortung für eine nicht auszuschließende Fehlentscheidung frühzeitig intern auf möglichst viele Schultern zu verteilen, damit die eigene künftige Verhandlungsposition von einer mitgetragenen oder gar veranlaßten falschen Entscheidung möglichst wenig tangiert wird. Andererseits könnte es sein, daß insbesondere derjenige, der die Übernahme eines Kaufobjektes forciert hat und nach dem Erwerb auch die Leitungsverantwortung für dieses Kaufobjekt übernehmen muß, schon bei seiner befürwortenden Unternehmungsbewertung für diesen Fall Vorsorge trifft, damit seine spätere Tätigkeit nicht von vorneherein mit einer von ihm nur schwer einlösbaren Hypothek belastet wird. Auch bei einer Unternehmungsbewertung, die intern als Argumentationshilfe zum Zwecke der Verantwortungsabgrenzung herangezogen werden soll, bietet der erwartete Erfolgsbeitrag einen Ansatzpunkt. Ich möchte Ihnen dies auf der Basis des Gewinnziels und für den zuletzt erwähnten Fall der Abgrenzung von Verantwortlichkeiten für die spätere Erfolgsrealisation erläutern.


Der für die Bewertung relevante Gewinnbeitrag der zu bewertenden Unternehmung setzt sich aus zwei Komponenten zusammen:


  • erstens aus dem Gewinnbeitrag, der bei Anwendung bestimmter Verrechnungskonventionen der zu bewertenden Unternehmung unmittelbar zugeordnet werden kann, und

  • zweitens aus dem zusätzlichen Gewinnbeitrag, der durch die Integration des Kaufobjektes in der Käuferunternehmung entsteht. Dieser sogenannte Synergieeffekt oder Verbundeffekt ist - bei der hier vorgenommenen begrifflichen Abgrenzung - als Resultante positiver und negativer Integrationswirkungen in anderen Unternehmungsbereichen zu sehen.

Derjenige, der eine Unternehmungsbewertung intern als Argumentationshilfe zum Zwecke der Abgrenzung von Verantwortlichkeiten für die spätere Erfolgsrealisation einsetzen möchte, wird sein Augenmerk auf diese beiden Erfolgskomponenten legen und deren Verhältnis in seinem Sinne verändern. Das heißt, den Gewinnbeitrag aufgrund von Verbundeffekten in anderen Unternehmungsbereichen wird er möglichst günstig darstellen, so daß die Verantwortung für die Realisation auch dort liegt.

Ich möchte Ihnen dies an der folgenden Abbildung erläutern. In dieser Abbildung 1 sind drei verschiedene Darstellungen, die ich mit A, B und C bezeichnet habe, für den gleichen Sachverhalt gewählt worden, wobei es sich jedes Mal um den gesamten bewertungsrelevanten Gewinnbeitrag handelt, der in realistischer Weise und ohne Manipulationsabsicht hinsichtlich seiner gesamten Höhe geschätzt wurde.



Bei der Darstellung A ist der bewertungsrelevante Gewinnbeitrag als ein Gesamtbetrag ausgewiesen. Bei der Darstellung B ist der gesamte bewertungsrelevante Gewinnbetrag aufgespalten in einen Betrag, der aus der Unternehmung - wie sie steht und liegt - erwartet wird, und in eine Gewinnsteigerung. Die Darstellungen A und B würden vollauf genügen, wenn es lediglich darum ginge, den zutreffenden Entscheidungswert zu bestimmen. Soll indes die Unternehmungsbewertung zugleich als Argumentationshilfe benutzt werden, um Verantwortlichkeiten voneinander abzugrenzen, so ist sowohl die Darstellung A als auch die Darstellung B dafür wenig zweckdienlich; denn so geht etwa aus der Darstellung B nicht hervor, ob die Gewinnsteigerung beim Kaufobjekt oder in anderen Unternehmungsbereichen zu erwarten ist. Als Argumentationshilfe zur Abgrenzung von Verantwortlichkeiten für die spätere Erfolgsrealisation ist die Darstellung C eher geeignet. In ihr wird der gesamte bewertungsrelevante Gewinnbeitrag aufgeteilt auf verschiedene Bereiche; und falls derjenige, der für die Bewertung verantwortlich ist, nach einem Erwerb auch für das Kaufobjekt die Verantwortung tragen soll, so unterliegt seiner unmittelbaren Verantwortung nur der Gewinn in Höhe der doppelt umrandeten Fläche. Dieser Gewinn könnte von ihm noch eher pessimistisch geschätzt sein, während die Gewinnsteigerung in anderen Bereichen der Käuferunternehmung eher zu optimistisch ist. Auf diese Weise könnte auf der Basis einer zwar insgesamt realistischen Gewinnschätzung versucht werden, sowohl den gewünschten Erwerb des Kaufobjektes als auch eine weitgehende Verlagerung der Verantwortlichkeiten für die spätere Erfolgsrealisation zu erreichen. Inwieweit gerade letzteres gelingt, ist indes auch eine Frage der Reaktion der anderen betroffenen Entscheidungsträger in der Käuferunternehmung und somit von internen Verhandlungs- und Machtprozessen abhängig.


5. Die argumentative Nutzung von Unternehmungsbewertungen in Verhandlungen mit Unternehmungsexternen


Mit dieser letzten Feststellung möchte ich meine Ausführungen zur Frage der Anwendung von Unternehmungsbewertungen zum Zwecke der Entscheidungsbeeinflussung und der Abgrenzung von Verantwortlichkeiten im Rahmen unternehmungsinterner Verhandlungen beenden und mich Fragen zuwenden, die sich aus der argumentativen Nutzung von Unternehmungsbewertungen in Verhandlungen mit Unternehmungsexternen ergeben. In solchen Verhandlungen werden die Bedingungen festgelegt, unter denen die beabsichtigte Veränderung der Eigentumsverhältnisse der zu bewertenden Unternehmung vollzogen werden soll. Im Falle eines Kaufs / Verkaufs, der im weiteren betrachtet wird, ist insbesondere die Höhe des zu zahlenden Preises Gegenstand der Verhandlungen zwischen den Parteien.


Eine Unternehmungsbewertung als Argumentationshilfe wäre in solchen Verhandlungen entbehrlich, wenn die Parteien ihre jeweiligen Preisgebote unbegründet in den Raum stellen würden und eine Einigung über eine bloße Abfolge von Preiszugeständnissen beider Seiten schließlich zustande kommen würde. In einem solchen Fall genügt es für eine rationale Verhandlungsführung der Parteien, wenn sie ihren jeweiligen Entscheidungswert kennnen. Der Käufer muß nur wissen, wieviel er maximal zahlen kann, der Verkäufer, wieviel er mindestens erhalten muß. Die Abbildung 2 erläutert die gerade beschriebene Verhandlungssituation, in der eine Unternehmungsbewertung als Argumentationshilfe entbehrlich wäre, weil die Einigung aus einer Abfolge unbegründeter Preisgebote resultiert.







Auf der Abszisse ist die Verhandlungsdauer abgetragen, auf der Ordinate das Verhandlungsresultat. Die Preisforderungen des Verkäufers werden mit zunehmender Verhandlungsdauer geringer, die Preisangebote des Käufers steigen. Nach einer bestimmten Verhandlungsdauer stimmen Forderung und Angebot überein. Beide Parteien haben sich auf einen bestimmten Preis geeinigt. Dieser Preis ist aus der Sicht beider Parteien akzeptabel, weil er sowohl unterhalb der Preisobergrenze des Käufers als auch oberhalb der Preisuntergrenze des Verkäufers liegt. Im Verhandlungsprozeß kennen die Parteien indes nur ihre eigene Entscheidungsgrenze.

Die der Abbildung 2 zugrunde liegende Verhandlungssituation nach Art des orientalischen Teppichhandels scheint für Verhandlungen über den Preis einer zu kaufenden Unternehmung nur in Ausnahmefällen zuzutreffen. Für Konfliktlösungsprozesse beim Kauf / Verkauf einer Unternehmung ist es vielmehr eher charakteristisch, daß

  • erstens die Parteien ihre Angebote begründen, wobei sie auf Unternehmungsbewertungsergebnisse zurückgreifen, und daß

  • zweitens die Einigung weniger über direkte Preiszugeständnisse als über eine kooperative Suche nach den richtigen Parametern einer Unternehmungsbewertung erreicht wird und daß

  • drittens Zugeständnisse der Parteien sich insbesondere auf diese Parameter beziehen.

In solchen Verhandlungssituationen stellt der eigene Entscheidungswert für die jeweilige Partei keine ausreichende Verhandlungsgrundlage dar; denn auf der Basis des eigenen Entscheidungswertes kann eine Partei nicht argumentieren, will sie ihre Verhandlungsposition nicht entscheidend schwächen. Die Parteien stehen damit in der Realität vor dem Problem, wie sie einerseits ihre Gebote möglichst überzeugend und wenig angreifbar begründen, andererseits aber Rückschlüsse auf ihren Entscheidungswert aus der Begründung ihrer Gebote erschweren oder verhindern können. Zur Lösung dieses Problems greifen die Parteien auf Argumentationswerte der Unternehmung zurück. Diese sind insofern Medien, um letztendlich die zwischen Käufer und Verkäufer bestehenden Interessengegensätze hinsichtlich der Preishöhe zu überbrücken und zu einer Einigung zu gelangen. Ich möchte sogar die These aufstellen, daß Argumentationswerte zu den von den Parteien anerkannten Spielregeln einer Kaufverhandlung gehören und daß sie trotz der mit ihrem Gebrauch verbundenen Beeiflussungsabsicht keine Instrumente der Übervorteilung darstellen, solange jede der Parteien ihren Entscheidungswert im Verhandlungsprozeß nicht außer acht läßt.
Was die angesprochene Beeinflussungsabsicht betrifft, so scheint mir folgende Differenzierung angebracht.


Die Argumentationswerte können erstens dazu dienen, um von dem vermuteten, gemeinsam realisierbaren Vorteil in Höhe der Differenz zwischen Preisobergrenze und Preisuntergrenze möglichst viel für sich zu separieren.
...

Die Beeiflussungsabsicht kann zweitens aber auch darauf gerichtet sein, den Einigungsbereich selber in einem für die eigene Verhandlungsstrategie günstigen Sinne zu beeinflussen. Dabei sind zwei Fälle zu unterscheiden. Eine Partei deckt die vermeintlichen Entscheidungswerte beider Parteien auf, um einen Verhandlungsbereich abzustecken, der zu ihren Gunsten von dem tatsächlich von ihr vermuteten Verhandlungsbereich deutlich abweicht. Neben dieser manipulativen Verwendung vermeintlicher Entscheidungswerte kann die Partei aber auch dem Verhandlungspartner über einen Argumentationswert Informationen zukommen lassen, die in der Tat geeignet sind,
  • erstens, einen bestehenden Einigungsbereich zu erweitern oder

  • zweitens die Voraussetzungen für eine Einigung zu schaffen, weil durch die gegebenen Informationen der Verhandlungspartner zu einer für die Einigungsmöglichkeiten günstigen Revision seines Entscheidungswertes veranlaßt wird. Der Käufer könnte etwa den Verkäufer auf vorteilhaftere Wiederanlagemöglichkeiten aufmerksam machen, so daß sich der vom Verkäufer mindestens zu fordernde Preis ermäßigt, oder der Verkäufer könnte den Käufer auf Integrationsmöglichkeiten verweisen, die dieser bislang noch nicht gesehen hat und die dessen maximal zahlbaren Preis so erhöhen könnten, daß eine bisher wenig annehmbare Preisforderung des Verkäufers akzeptabel erscheint.
...

6. Traditionelle Unternehmungsbewertungsverfahren als Argumentationshilfe


Argumentationswerte unterliegen einem ehernen Gebot: Sie müssen für die Beeinflussungsabsicht der sie verwendenden Partei nützlich sein. Dies bedeutet insbesondere, daß ihre Herleitung dem Verhandlungspartner einsichtig und sachgerecht erscheint. Welche Wertgröße in einer konkreten Situation diesem Kriterium genügt, läßt sich schwerlich allgemein sagen. Argumentationswerte können und werden deshalb in verschiedenster Gestalt in eine Verhandlung eingeführt, sei es als vermeintliche oder tatsächliche Entscheidungswerte, sei es als interessenabwägende Arbitriumwerte, sei es als typisierte Unternehmungswerte auf der Basis traditioneller Unternehmungsbewertungsverfahren. Gerade letztere weisen eine für die Argumentationsfunktion der Unternehmungsbewertung wichtige Eigenschaft auf. Sie werden seit langem praktiziert und haben dementsprechend die für die Argumentationsfunktion nützliche Reputation des schon seit langem Bewährten. Wie lange diese Aussage noch als weitgehend zutreffend bezeichnet werden kann, muß indes offen bleiben. Denn es ist ein aus der Sicht der Argumentationsfunktion der Unternehmungsbewertung sehr zu bedauernder Erosionsprozeß festzustellen, der insbesondere die alleinige argumentative Nutzung des Substanzwertes in Form des Teilrekonstruktionsaltwertes schon arg in Mitleidenschaft gezogen hat. Die Bemerkungen von heute morgen könnten indes darauf hindeuten, daß dieser Substanzwert - entgegen meiner pessimistischen Prognose - den verhandelnden Parteien vielleicht doch noch recht lange als Argumentationshilfe erhalten bleiben wird. Eine andere wichtige Funktion sehe ich für den Substanzwert in Form des Teilrekonstruktionsaltwertes nicht.


7. Zur Bedeutung einer Dekomposition des Verhandlungsproblems entsprechend dem verwendeten Unternehmungsbewertungsverfahren


Ich hatte schon darauf hingewiesen, daß in Verhandlungen über den Kauf / Verkauf einer Unternehmung eine Einigung nicht so sehr über direkte Preiszugeständnisse, sondern mehr über eine kooperative Suche der Parteien nach den "richtigen" anzusetzenden Bewertungsparamentern versucht wird und daß sich Konzessionen auf die Höhe dieser Parameter beziehen. Das eigentliche Problem, nämlich die Festlegung des zu zahlenden Preises, wird bei einer solchen Vorgehensweise in verschiedene Unterprobleme zerlegt, über die die Parteien gesondert diskutieren und verhandeln können. Bei einer Argumentation auf der Basis des Ertragswertverfahrens sind solche Unterprobleme die Festlegung des zu kapitalisierenden Zukunftserfolgs, die Berücksichtigung des Risikos und die Auswahl des anzusetzenden Kapitalisierungszinsfußes.


Der Vorteil einer solchen Zerlegung des ursprünglichen Problems besteht vor allem darin, daß die Parteien sich auf diese Weise einen Argumentationsraum erschließen und daß Konzessionen bei der Lösung des einen Teilproblems durch Konzessionen des Verhandlungspartners bei anderen Teilproblemen in Grenzen kompensiert werden können, so daß die Auswirkungen solcher Konzessionen so lange relativ unbestimmt bleiben, wie die Parteien nicht zu übereinstimmenden Meinungen hinsichtlich der Lösung aller Teilprobleme gekommen sind. Die kooperative Suche nach akzeptablen Lösungen dürfte aus diesem Grunde, aber auch schon deshalb erleichtert werden, weil Konzessionen bei solchen Sachproblemen wie der Höhe des Zukunftserfolges, der Risikoberücksichtigung oder des Kapitalisierungszinsfußes weniger als ein Zurückweichen vor gegnerischen Forderungen, sondern mehr als ein Eingehen auf überzeugendere gegnerische Argumente angesehen werden können.


Ein Argumentationswert kann dann einer Partei auch die Möglichkeit bieten, eine vorher eingenommene, aber unhaltbare Verhandlungsposition in den nachfolgenden Sachgesprächen ohne Gesichtsverlust zu räumen.


8. Zur Abschätzung der Auswirkungen von Konzessionen bei den Parametern des Ertragswertverfahrens auf die begründbare Preishöhe


Die Argumentationsfunktion der Unternehmungsbewertung läßt - wie schon angesprochen - die Anwendung der traditionellen Unternehmungsbewertungsverfahren in einem neuen Licht erscheinen. Die Nutzung des sich ergebenden Argumentationspotentials erfordert indes eine genaue Kenntnis der einzelnen Verfahren. Dazu gehört unter anderem, daß die damit argumentierende Partei die Auswirkungen auf die Höhe des mit Hilfe eines bestimmten Verfahrens ableitbaren Preises jederzeit abzuschätzen vermag, sofern im Laufe der Verhandlung einzelne Komponenten des als Argumentationshilfe benutzten Verfahrens durch Zugeständnisse verändert werden. 

...




9. Schlußbemerkung


Abschließend möchte ich nochmals betonen, daß die argumentative Nutzung von Unternehmungsbewertungen keine Erfindung von Theoretikern ist, sondern einer praktischen Übung entspricht. Es gehört freilich zum Mimikry des Argumentationswertes, daß er seinen wahren Charakter verleugnet.




Kompletter Vortrag mit Beispielen










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