Donnerstag, 15. Oktober 2009

Risiko als Ergebnis, nicht als Determinante der Unternehmensbewertung


Wolf F. FISCHER - WINKELMANN beklagt in seiner Abhandlung Sollen impliziert Können - Grundsätze ordnungsgemäßer Unternehmensbewertung einmal anders (BFuP 4/2009, S. 343 ff.) die in der Bewertungspraxis sehr häufig anzutreffenden so genannten "Punktprognosen":

"Die einwertigen Prognosen, sprich die sogenannten Punktprognosen, welche die Bewertungspraxis in Spruchverfahren der BIG FIVE und deren Ableger oder sonst nahestehenden Gesellschaften prägen, suggerieren dem Adressaten der Bewertungsergebnisse optisch und gefühlsmäßig einen hohen Sicherheitsgrad der ermittelten Werte, da dieser in der Regel die desaströsen Hintergründe nicht durchschaut. Die Punktprognosen pflegen in Gutachten-, Umwandlungs-, Verschmelzungsberichten usw. so präsentiert zu werden, als könnte man künftige Entwicklungen, insbesondere die zu erwartenden Netto-Ausschüttungen, in einer Zahl (einwertig) ausdrücken. Nun ist es aber so, daß nachweislich jede Prognose unsicher, d.h. mehrwertig ist (logisch notwendig sein muß, Popper!) und immer, offen oder verdeckt eine Bandbreite möglicher zukünftiger Werte umfaßt. Bei einwertig präsentierten Bewertungsverfahren werden die einwertig prognostizierten Zukunftsergebnisse intuitiv zu einem einwertigen Unternehmenswert zusammengefaßt, der sozusagen im Hintergrund eine unbekannt bleibende Bandbreite möglicher Werte irgendwie repräsentiert. So produzierte Unternehmenswerte sind Selbsttäuschung, die dann zur Täuschung der Adressaten führen, wenn man es regide fomulieren wollte.

Daß diverse Vertreter der Unternehmensbewertungslehre regelmäßig Ableitungen aus formalen Modellen als tragfähige Basis für eine Anleitung der Praxis halten oder hinstellen, resultiert aus einer fehlerhaften Sicht der Logik der Mathematik. Dem Problem der Beziehung von der Mathematik und Realität ist auch Einstein nachgegangen. Er fragt: Wie ist es möglich, daß die Mathematik, die ein von Erfahrung unabhängiges Produkt des menschlichen Denkens ist, auf die Gegenstände der Wirklichkeit so vortrefflich paßt? Kann denn die menschliche Vernunft ohne Erfahrung durch bloßes Denken Eigenschaften der wirklichen Dinge ergründen? Die Antwort war: NEIN! Von Einstein kommt auch ein anderer Satz, der bemerkens- und beherzigenswert in der Unternehmensbewertungstheorie oder -lehre wäre: Wenn du ein wirklicher Wissenschaftler werden willst, dann denke wenigstens eine halbe Stunde am Tag das Gegenteil von dem, was deine Kollegen denken."

Einsteins Rat wurde von Wolf - Rüdiger BRETZKE in seinem Werk Das Prognoseproblem bei der Unternehmensbewertung (Düsseldorf 1975) offensichtlich befolgt. Unter der Kapitelüberschrift Voraussetzungen eines praktisch brauchbaren Verfahrens zur Unternehmungsbewertung bei unvollkommener Information schreibt er:

"Die unvermeidliche Folge unvollkommener Informationen sind mehrwertige Erwartungen über die voraussichtliche Entwicklung, die die Erfolge der zu bewertenden Unternehmung in der Zukunft nehmen werden. Die Breite des Erwartungsspektrums bzw. die Streuung der zu seiner formalen Repräsentation definierten Wahrscheinlichkeitsverteilung kann zwar durch Maßnahmen zur Verbesserung des im Bewertungszeitpunkt vorherrschenden Informationszustandes verringert werden, sie kann jedoch nie auf einen einzigen, sicheren Wert reduziert werden, wie dies die einwertige Logik des Bewertungskalküls erfordert. Für die Bewertungstheorie stellt sich daher die Frage, welche Konsequenzen aus der de facto stets vorhandenen Mehrwertigkeit der Erwartungen zu ziehen sind.

...

Grundsätzlich sollte es nicht Aufgabe der Unternehmungsbewertung sein, einen quasi - sicheren (im Sinne von: subjektiv risikofreien) Wertansatz zu ermittlen, sondern vielmehr einen Entscheidungswert ableiten, bei dem nach Auswertung aller im Bewertungszeitpunkt verfügbaren Informationen Risiko und Chancen in einem solchen Verhältnis zueinander stehen, daß der Bewertungsträger im Bewußtsein dieser Relation bereit ist, maximal einen sicheren Geldbetrag gleicher Höhe gegen die Unternehmung einzutauschen. Dies setzt jedoch voraus, daß man den Begriff des nachhaltig erzielbaren bzw. repräsentativen Zukunftserfolgs, mit dessen Hilfe die Mehrwertigkeit der Erwartungen in traditionellen Verfahren sprachlich verschleiert wird, aufgibt und der Bewertung eine systematische, der Mehrwertigkeit der Erwartungen auch formal Rechnung tragende Analyse der möglichen Entwicklungen aller erfolgsbestimmenden Variablen zugrunde legt. Denn nur eine sorgfältige Analyse der möglichen zukünftigen Entwicklungen des Unternehmenserfolges kann die informatorische Basis liefern, auf der man alternative Wertansätze (also beispielsweise auch den Ertragswert) auf ihren Risikogehalt analysieren kann, und nur wenn das Risiko in Abhängigkeit von der Zielvariablen des Bewertungskalküls, dem maximal zahlbaren Preis, gemessen werden kann, besteht die Möglichkeit, einen Wertansatz als Grenzpreis zu ermitteln, der der spezifischen Risikopräferenz eines Bewertungssubjektes entspricht. ..."


Im Kapitel Schlussbetrachtungen führt Bretzke in diesem Zusammenhang aus:

"Die Unvollkommenheit der Informationen erschwert den Vorgang der Grenzpreisermittlung insbesondere durch die mit ihr verbundene Mehrwertigkeit der Erwartungen, die der einwertigen Logik der Bewertungsmodelle widerspricht. Aus diesem Widerspruch können verschiedene Folgerungen gezogen werden. Eine unzweckmäßige Konsequenz ist aber in jedem Falle die Verdeckung der (de facto stets vorhandenen) Mehrwertigkeit des zukünftigen Möglichkeitsfeldes durch einwertige (Punkt-) Prognosen, wie dies in den klassischen Verfahren geschieht. Denn mit der Repräsentation der zukünftig möglichen Erfolgsentwicklung durch einen einzigen Erfolg wird dem Bewertungsträger jeglicher Anhaltspunkt über die Risiken entzogen, die mit der von ihm zu treffenden Bewertungsentscheidung verbunden sind. Die Korrektur des ursprünglich als nachhaltig erzielbar geschätzten repräsentativen Zukunftserfolges und/oder des Kalkulationszinsfußes, mit der die klassischen Verfahren dem Risikoproblem begegnen, muß vor dem Hintergrund einer derart dürftigen Informationsbasis nahezu zwangsläufig zu einem Akt der Willkür werden. Selbst das (seinerseits außerordentlich fragwürdige) Ziel der Ermittlung eines quasi - sicheren Wertansatzes, das mit diesen Verfahren verfolgt wird, ließe sich nur erreichen, wenn man den Bewertungsvorgang an einer Beschreibung der Zukunft orientiert, die der Mehrwertigkeit der Erwartungen durch Aufzeigung alternativer Entwicklungsmöglichkeiten formal Rechnung trägt. Denn die Bestimmung eines quasi - sicheren (subjektiv risikofreien) Wertansatzes ist nur möglich, wenn man neben dem repräsentativen Zukunftserfolg diejenige Entwicklung ermittelt, die die Erfolge der Unternehmung unter der Voraussetzung der ungünstigsten aller denkbaren Entwicklungen der Erfolgsdeterminanten nehmen werden.

Legt man der Bewertung ein breiteres Erwartungsspektrum zugrunde, welches die aus der Unvollkommenheit der Information resultierende Unsicherheit offenlegt, anstatt sie zu verschleiern, so wird deutlich, daß das mit dem Kauf einer Unternehmung verbundene Risiko von dem Preis abhängt, den man für ihren Erwerb entrichtet. Das Risiko ist insofern nicht Determinante, sondern Ergebnis des Bewertungskalküls, d.h. der Bewertungsvorgang impliziert eine Entscheidung zwischen verschiedenen, unterschiedlich risikobehafteten Grenzpreisen. Aus dieser Erkenntnis folgt unmittelbar, daß die Ableitung eines präferenzgerechten Grenzpreises nur unter expliziter Berücksichtigung der spezifischen Einstellung des jeweiligen präsumtiven Käufers zu Risiko und Chance erfolgen kann."
Fazit: Ein geeignetes Bewertungsverfahren hat die logische Notwendigkeit stets mehrwertiger Erwartungen hinsichtich des Zukunftserfolges des zu bewertenden Unternehmens zu berücksichtigen. Es impliziert eine Entscheidung des Bewertungsadressaten (Käufer/Verkäufer) zwischen verschiedenen - unterschiedlich risikobehafteten - Grenzpreisen und setzt beim Bewerter die Kenntnis der Risikopräferenz des Käufers / Verkäufers voraus. In diesem Sinne ist "das" Risiko Ergebnis des Bewertungskalküls, nicht Determinante.

Mehrwertige Erwartungen beeinflussen die Schätzung der Zählergröße des Kapitalwertkalküls.

Zu den mehrwertigen Planungsverfahren zählen die

  • Szenario - Analyse und
  • die Planung auf Basis des Entscheidungsbaumverfahrens.
Szenarien sind hypothetische Ursache - Wirkungs - Beziehungen zwischen Erfolgsdeterminanten und Zielgrößen des zu bewertenden Unternehmens. Die Szenario - Analyse erlaubt es, den Einfluss von "Störgrößen" auf den Erfolg des Unternehmens zu prognostizieren, um Gegenmaßnahmen implementieren zu können, die das Unternehmen "fehlertolerant" machen. In derartigen Szenarien lassen sich auch qualitative Einflußgrößen abbilden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Anwendung der Szenario - Analyse voraussetzt, dass ein kausales Denken ausreicht, um die "Lebenswirklichkeit" des zu bewertenden Unternehmens hinreichend gut zu durchdringen. In den vergangenen Jahren waren auf Unternehmensebene tiefgreifende Umbrüche zu beobachten. Das auf Arbeitsteilung als "wohlstandsbringende Ordnung" basierende Unternehmen gehört der Vergangenheit an; es ist zu einem "Netzwerkunternehmen" geworden, das auf vielfältige Weise mit seiner Umwelt verwoben ist. Diesem Paradigmenwechsel hinkt die Szenario - Analyse hinterher.

Bei mehrwertigen Erwartungen muss der Bewerter prognostizieren, in welchen Zeiträumen und bei welchen Strategien bzw. bei welchen Rahmenbedingungen des Unternehmens die Zukunftserfolge in welcher Höhe und mit welcher jeweiligen Eintrittswahrscheinlichkeit erwartet werden. Der Bewerter muss also einen Entscheidungsbaum erzeugen. Dieser Entscheidungsbaum lässt sich bei Vorgabe einer Zielfunktion rekursiv lösen. Dadurch wird die optimale Unternehmensstrategie in Abhängigkeit der Rahmenbedingungen bestimmt. Es handelt sich somit um eine flexible Planung. Das Entscheidungsbaum - Verfahren mag auf den ersten Blick unpraktisch erscheinen, es sollte jedoch nicht voreilig verworfen werden.

Es kann beispielsweise durchaus auf Biotechnologie - Unternehmen angewendet werden, die sich mit der Medikamentenentwicklung befassen. Von STEWART / ALLISON / JOHNSON wurde 2001 der Risk - adjusted Net Present Value - Ansatz vorgeschlagen. Von KELLOG / CHARNES ist 2000 ein ähnlicher Ansatz erarbeitet worden, der Expected Net Present Value - Ansatz. Beide Verfahren sind entscheidungsbaumbasiert und machen es sich zunutze, dass sich die Medikamentenentwicklung eindeutig in Phasen einteilen lässt, für die empirische Wahrscheinlihckeiten bekannt sind, mit denen ein Medikament bis zur Marktreife entwickelt wird. So beträgt beispielsweise die Wahrscheinlichkeit, ein Produkt auf den Markt zu bringen, das am Beginn der ersten klinsichen Phase steht, ca. 20 % (Pharmaceutical Research and Manufacturers of America, Pharmaceutical Industry Profile). Eine derartige Wahrscheinlichkeit ist allerdings nicht unternehmensspezifisch, sondern ist ein Durchschnittswert, der auf Erfahrungen aus einer sehr großen Zahl an Medikamenten - Entwicklungsprozessen basiert.










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