Stellen Sie sich vor, die Stromerzeuger hätten ein neues Versorgungssystem installiert, das ihnen prächtige Gewinne beschert und dann allen anderen vier Wochen Stromausfall. Stellen Sie sich vor, die Bauern würden mit neuen Anbaumethoden erst reich werden und dann alle sieben Jahre eine Missernte auslösen. Stellen Sie sich vor, die Wasserwerke machten uns mit Innovationen ihr Leitungswasser schmackhaft wie nie und dann würde innovationsbedingt plötzlich kein Trinkwasser mehr aus den Hähnen kommen.
Stellen Sie sich vor, das wäre in allen drei Fällen durchaus vorhersehbar gewesen und auch vorausgesagt worden.
Dann würden Sie sich doch zwangsläufig fragen: Ist es denn nicht Aufgabe des demokratischen Staates, seine Bürger zu schützen? Und müsste der Staat dann nicht alles in seiner Macht Stehende tun, damit nie wieder ein Geschäftszweig sein Wachstum und seine Gewinne mit dem Risiko steigert, dass viele andere darunter existenziell zu leiden haben? Die Antwort kann nur Ja! lauten.
Der neunte Munich Economic Summit ist dem Thema gewidmet "The financial crisis: The way forward". Diesen Weg vorwärts werden wir nur finden, wenn wir weit über die Finanzkrise hinaus denken. Wir dürfen die Krise nicht verschwenden, sondern müssen aus ihr lernen. Sie hat sehr grundsätzliche Fragen aufgeworfen. Darum halte ich drei Antworten auf die Krise für geboten:
Wir brauchen erstens Finanzmärkte unter dem Primat demokratischer Politik und im Dienst der Gesamtwirtschaft. Wir brauchen zweitens eine Wirtschaft im Dienste der gesamten Gesellschaft. Und wir brauchen drittens ein gesellschaftliches Miteinander, zu dem alle beitragen. Das sind drei Gestaltungsaufgaben, die uns niemand abnimmt. Sie verlangen den Mut der Politik, die Einsicht der Bürger und die Bereitschaft zur demokratischen Selbstbestimmung.
Die internationale "Finanzindustrie" hat mit sogenannten Finanzinnovationen ihre eigenen Gewinne in schwindelnde Höhen getrieben und nicht nach den Risiken gefragt. Sie hat damit eine Krise ausgelöst, die ohne staatliche Rettungsmaßnahmen zu einem Zusammenbruch des globalen Finanzsystems geführt hätte. Die Regierungen, Parlamente und Zentralbanken der westlichen Demokratien hatten keine andere Wahl, als dem einen nie dagewesenen finanziellen Stimulus und weitreichende Garantien für Finanzinstitute entgegenzusetzen. Sie mussten eine Explosion der Staatsverschuldung und die damit verbundene Haftung der heutigen und künftiger Steuerzahler in Kauf nehmen.
Solch eine Rettungsaktion lässt sich nicht wiederholen - weder finanziell noch politisch. Müssen nicht auch deshalb die demokratischen Staaten der Welt alles tun, um die Wiederholung einer solchen Krise zu vermeiden? Die Antwort kann abermals nur Ja! lauten. Die Bürgerinnen und Bürger wollen vor unverantwortlichem Treiben auf den Finanzmärkten sicher sein. Die nächste schwere Krise des Finanzsystems würde, da bin ich mir sicher, nicht allein die Funktionstüchtigkeit unseres Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells in Frage stellen, sondern auch seine Glaubwürdigkeit. Dem entgegenzutreten muss für Demokratien als Werte- und Schutzgemeinschaften und für ihre Amtsträger ein zwingender Auftrag sein.
Die Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs der G 20 in Pittsburgh hat dazu richtige und wichtige Grundlagen gelegt. Doch was wird daraus? Die internationale "Finanzindustrie" und ihre Lobbyisten lassen offensichtlich nichts unversucht, die verabredeten Maßnahmen zu verwässern. Zugleich geht das Wetten weiter, es bauen sich schon wieder neue Finanzblasen auf, und während die Staaten und die Bürger noch immer mit den Folgen der Krise kämpfen, genehmigen sich Teile der Finanzbranche schon wieder gigantische Boni. Haben die Betreffenden überhaupt verstanden, was auf dem Spiel steht?
Die Praxis des heute vorherrschenden Finanzkapitalismus kann jedenfalls für uns kein Leitbild sein. Er ist sich selbst genug. Er operiert vor allem mit Wetten und Schulden. Er steigert seine eigenen Renditen ohne Rücksicht darauf, ob das dem Wohlergehen der Nationen nutzt. Die aktuelle Krise zeigt ein Muster, das nicht akzeptabel ist - die Gewinne haben wenige gemacht, die Verluste muss die Allgemeinheit tragen.
Es gibt ein besseres Leitbild. Ralf Dahrendorf hat darauf schon vor 25 Jahren hingewiesen. Er hat zwischen "Pumpkapitalismus" und "Sparkapitalismus" unterschieden. Sparkapitalismus heißt dauerhafte Werte schaffen, statt Wetten einzugehen, heißt reale Güter und Dienstleistungen finanzieren, statt virtuelle Finanzpyramiden aufzubauen. Im Sparkapitalismus dominieren nicht das Kurzfristdenken und die Spekulation, sondern die realwirtschaftliche Investition und ein Eigentum, das sich in Verantwortung bindet. Da ist man an einem stabilen Geldwert interessiert und bringt allen Respekt entgegen, die Geld zurücklegen und damit für die Zukunft vorsorgen. Eine Wirtschaft nach diesem Leitbild verbessert die Lebensbedingungen Aller. Sie zielt auf nachhaltigen Wohlstand für Alle.
Einer Wirtschaft mit diesem Leitbild haben auch die Finanzmärkte zu dienen. Sie sollen als vertrauenswürdiger Mittler zwischen Sparer und Investoren treten, statt alles in Gefahr zu bringen. Diese dienende Rolle ist die eigentliche Existenzberechtigung der Finanzmärkte, und sie darauf festzulegen muss das zentrale Ziel der Neuordnung der Finanzmärkte sein.
Die Politik muss ihr Primat über die Finanzmärkte zurückgewinnen. Sie hat den Interessen der Finanzmarktakteure zu viel Raum ohne Regeln überlassen. Das war ein Grund dafür, dass die Finanzkrise überhaupt entstehen konnte. Und es hat dazu geführt, dass der Staat in der Finanzkrise erpressbar war - und es bis heute ist. So etwas darf sich nicht wiederholen.
Das gebietet einfache und harte Regeln für die "Finanzindustrie". Sie muss Grenzen gesetzt bekommen, damit Freiheit sich nicht selbst zerstört. Vier Konsequenzen aus der Krise halte ich für vorrangig:
Erstens: Dem zentralen marktwirtschaftlichen Prinzip der Haftung muss wieder durchgängig Geltung verschafft werden, vor allem durch ausreichend hohes Eigenkapital für alle Arten von Finanzgeschäften, unabhängig vom Bankbegriff, das heißt unter Einbeziehung zum Beispiel von Hedgefonds und Private Equity-Firmen.
Zweitens - und das hat auch viel mit Haftung zu tun: Keine Bank und kein Finanzakteur darf mehr zu groß zum Scheitern sein. Das verlangt dringend eine besondere Insolvenzordnung für international operierende Finanzinstitute, einschließlich der Möglichkeit, ein Institut vorübergehend in staatliche Zwangsverwaltung zu nehmen.
Drittens: Wir brauchen größtmögliche Transparenz im Bereich der sogenannten Derivate und ein Ende des Schattenbankenwesens. Es sollte für Finanzinnovationen ein internationales Zulassungsverfahren, eine Art internationaler TÜV, geschaffen werden, und Derivate sollten nur noch an öffentlichen Börsen gehandelt werden.
Viertens: Die Staats- und Regierungschefs der G 20 sollten darauf bestehen, dass die "Finanzindustrie", wie in Pittsburgh gesagt, einen "fairen und substanziellen Beitrag" zur Bewältigung der Kosten der Krise leistet. Mir persönlich scheint eine Abgabe auf internationale Finanztransaktionen hierfür immer noch der beste Weg.
Die Bundesregierung plant richtige Schritte, das zeigen die von ihr beschlossenen Eckpunkte für eine neue Finanzmarktregulierung. Erfreulich ist dabei auch die enge Abstimmung mit den französischen Partnern. Ich wünschte mir sogar, dass das deutsch-französische Tandem noch mehr Führung zeigt. Denn so nötig eine weltumspannende neue Finanzordnung auch wäre, so weit sind wir politisch noch von ihr entfernt. Wollen wir trotzdem bloß weiter auf sie warten? Präsident Obama hat der amerikanischen Debatte vergangene Woche mit seiner Rede zur Finanzreform einen starken neuen Impuls gegeben, und ich wünsche ihm allen Erfolg. Er sagt mit Recht: "(...) mit einem freien Markt war niemals gemeint, dass man damit eine Lizenz besitzt, sich alles zu nehmen, was man kriegen kann - egal wie." Doch selbst wenn die Reform in den USA vorankommt, sollte Europa nicht nur abwarten. Ich glaube, dass die Euro-Gruppe gut daran täte, eigene, kraftvolle Vorschläge für ein neues Regelwerk vorzulegen. Sie sollte dabei nicht davor zurückschrecken, einige Geschäftsarten schlicht zu verbieten, zum Beispiel ungedeckte "Leergeschäfte" oder over the counter-Transaktionen mit riesiger Hebelwirkung. Auch für solche "weapons of mass destruction" brauchen wir Abrüstung. Und Europa braucht eine effiziente zentrale Aufsicht über grenzüberschreitend tätige Institute und eine europäische Rating-Agentur. Das würde zugleich der Logik unseres Einsatzes für einen wertbeständigen Euro entsprechen.
Zur Lage des Euro und Griechenlands will ich heute nur das Folgende sagen: Der Euro hat Europa bisher gute Dienste geleistet. Wenn wir keine schweren Fehler machen, wird er das auch in Zukunft tun und im Weltwährungssystem ein Anker der Stabilität bleiben. Es lenkt nur ab, jetzt die Schlachten der Vergangenheit erneut zu schlagen. Griechenland muss jetzt seine Verantwortung annehmen. Doch es erwartet verständlicherweise Hilfe zur Selbsthilfe. Die Beteiligung des Internationalen Währungsfonds an der Hilfe ist zu begrüßen, weil damit die ganze Erfahrung dieser Institution mit der Bewältigung von Schuldenkrisen genutzt werden kann. Deutschland sollte auch aus eigenem Interesse seinen Beitrag zur Stabilisierung leisten. Und alle Mitglieder der Euro-Gruppe und die Europäische Kommission müssen aus der Krise lernen. Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion braucht eine bessere Koordinierung der nationalen Wirtschafts- und Finanzpolitiken und einen wirksamen Mechanismus, Fehlentwicklungen in Mitgliedstaaten rechtzeitig und nachhaltig entgegenzuwirken. Die Bundesregierung setzt sich mit Recht dafür ein.
Selbst wenn die Staatengemeinschaft und die Europäische Union den Finanzmärkten die fehlende gute Ordnung geben würden, dann wäre das allein noch nicht ausreichend. In Abwandlung eines bekannten Wortes von Ernst-Wolfgang Böckenförde: Auch die Marktwirtschaft lebt von Voraussetzungen, die der Staat nicht garantieren kann. Sie ist auf Wirtschaftsbürger angewiesen, die nicht allein den Buchstaben des Gesetzes achten, sondern auch seinen Geist, und die ihr Handeln an Werten und Haltungen orientieren, die der Staat nicht erzwingen kann. Im Bereich der Wirtschaft zum Beispiel sind das die Werte und die Haltung des Ehrbaren Kaufmanns. Je mehr Unternehmensführer dieses Leitbild beherzigen, desto freiheitlicher kann das Marktgeschehen bleiben.
Wenn Freiheit, gute Regeln, ideenreicher Fleiß und Anstand zusammenkommen, dann stellen sich auch nachhaltiger wirtschaftlicher Erfolg und gesellschaftlicher Zusammenhalt ein. Das ist unsere Erfahrung aus sechzig Jahren Sozialer Marktwirtschaft.
Darum ist beim Weg aus der Krise als zweites die Frage wichtig: Wie erhalten wir die Kraft der Marktwirtschaft? Ich glaube, dass jede Nation dafür als erstes Soll und Haben überschlagen muss. Reden wir also über Staatsverschuldung.
Um nicht die gesamte Weltwirtschaft in den Abgrund stürzen zu lassen, haben die Industrieländer ihre Staatsverschuldung massiv in die Höhe gefahren - binnen dreier Jahre um 20 bis 30 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung. Die OECD erwartet, dass die Verschuldung der Industriestaaten im nächsten Jahr erstmals ihre Wirtschaftskraft - also die Marke von 100 Prozent des BIP - überschreiten wird.
Das hat Folgen. Neue Forschungsergebnisse zeigen: Eine Staatsverschuldung schon deutlich unterhalb dieser Größenordnung ist eine Hypothek für die gedeihliche Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft. Historisch sind Finanzkrisen vor allem Schuldenkrisen. Das trifft auch auf die jetzige Krise wieder zu. Die bittere Wahrheit lautet: Die meisten westlichen Gesellschaften haben - lange vor dem aktuellen Krisenmanagement - chronisch über ihre Verhältnisse gelebt.
Und Deutschland ist davon nicht ausgenommen. Unsere explizite Staatsverschuldung liegt derzeit bei fast 1,8 Billionen Euro oder rund 74 Prozent unserer gesamtwirtschaftlichen Leistung. Berücksichtigt man auch die impliziten Schulden, also alle finanziellen Versprechen, die der Staat für die Zukunft eingegangen ist, zum Beispiel zur Finanzierung der Renten und Pensionen, so liegt die gesamte Schuldenlast noch deutlich höher.
Bis zur Stunde verlassen wir uns darauf, dass vor allem Wirtschaftswachstum helfen wird, mit dem Schuldenproblem fertig zu werden. Manche empfehlen sogar, dafür zunächst noch mehr Schulden zu machen. Ich glaube, das ist ein schlechter Rat, dem wir auf keinen Fall folgen sollten. Er würde uns in eine aussichtslose Schuldenfalle führen, weil sich für die entwickelten Volkswirtschaften Grenzen des Wachstums nicht mehr übersehen lassen.
Das Potentialwachstum ist in Deutschland - wie übrigens in den meisten anderen Industriestaaten auch - in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich gesunken. Es liegt derzeit bei ungefähr einem Prozent. Ein etwas höherer Wachstumspfad ist in Deutschland noch für einige Zeit möglich und auch wünschenswert. Ihn zu erreichen hängt von unserer Kraft zu Strukturreformen ab. Ich füge aber genauso überzeugt hinzu: Mit Wachstum und Wachstumspolitik allein werden wir das Schuldenproblem nicht mehr lösen können. Wir müssen zudem noch die rapide Abnahme der Bevölkerungszahl in den Blick nehmen. Deutschland wird 2050 wahrscheinlich über zehn Millionen Einwohner weniger haben. Immer weniger Menschen müssen also einen wachsenden Schuldenberg bedienen, wenn wir die Dinge so lassen, wie sie sind. Das ist keine gute Zukunftsperspektive für Deutschland. Und vor Gedankenspielen über eine "Lösung" des Schuldenproblems durch "kontrollierte Inflation" kann ich nur warnen. Im Gegenteil: Es darf kein Zweifel daran aufkommen, dass die Notenbanken entschlossen sind, das Übermaß an monetärer Liquidität in den Märkten - selbst eine der zentralen Krisenursachen - wieder zurückzuführen.
Mein Rat für Deutschland lautet: Um dauerhaft Stabilität zu sichern und unserer Sozialen Marktwirtschaft neue Kraft zu geben, müssen wir die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte zur maßgeblichen, zur Maß gebenden Staatsaufgabe der nächsten zehn Jahre machen. Das ist nicht nur eine verfassungsrechtliche, sondern auch eine moralische Pflicht! Überzeugend gelingen kann die Konsolidierung nur, wenn Staatsausgaben und Subventionen zurückgeschraubt werden.
Ich plädiere dafür, die Gesundung der öffentlichen Haushalte mit nachhaltigen Reformen in unseren Steuer- und Transfersystemen zu verbinden. Diese additiv aufgewachsenen Systeme strotzen vor Ungereimtheiten und lassen wegen ihrer Überkomplexitäten kaum noch sichere Urteile darüber zu, ob sie überhaupt ihre politischen Ziele erreichen. Ich glaube, schon mit Vereinfachungen und der Beseitigung von Widersprüchen ließe sich viel Gutes erreichen. Damit plädiere ich für eine Sparpolitik, die auch weiß und vorgibt, wo nicht gespart werden darf.
Nicht gespart werden darf im Bereich Bildung, Forschung und Entwicklung. In unser Bildungswesen, in unsere Hochschulen und Forschungseinrichtungen und in ein gesellschaftliches Klima, in dem Bildung und das Bemühen um Bildung geachtet und geschätzt werden, müssen wir mehr investieren, nicht weniger. Eine große gemeinsame Anstrengung für diese Ziele ist der wichtigste Beitrag zur Zukunftsfähigkeit unseres Landes.
Gute Bildung für alle ist die Voraussetzung für gesellschaftliche Integration und für hochwertige Arbeitsplätze. Sie ist zugleich die wichtigste Antwort auf die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit. Immer noch haben Kinder aus Familien mit Migrationsgeschichte, Kinder aus einkommensschwachen und bildungsfernen Familien deutlich schlechtere Bildungschancen als ihre Altersgenossen. Das ist eine empörende Ungerechtigkeit, und es schädigt unsere Wirtschaft und unser Zusammenleben bis ins Mark. Und auch unsere berufliche Bildung, unser Hochschulwesen und unsere Forschungseinrichtungen sind dringend auf mehr Investitionen angewiesen.
Mit der Vereinbarung von Bund und Ländern, die Ausgaben für Bildung und Forschung bis 2015 schrittweise auf zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts anzuheben, ist die richtige Weichenstellung erfolgt. Diese Absicht muss aber auch realiter umgesetzt werden. Dieses Ziel zu erreichen ist nötigenfalls auch eine Steuererhöhung wert.
Ein Bildungswesen und Forschungseinrichtungen von Weltrang sind auch für den Umbau zu einer ökologischen Sozialen Marktwirtschaft nötig. Dieser Umbau ist ohne Alternative. Im Jahr 1800 lebte eine Milliarde Menschen auf der Erde, im Jahr 2000 sind es mehr als sechs Milliarden gewesen, in vierzig Jahren werden es über neun Milliarden sein. Aber die Rohstoffe und die Biosphäre wachsen nicht mit. Also braucht die Welt nach Dampfmaschine und Mikrochip eine dritte Revolution, eine Revolution der Umweltverträglichkeit, eine Revolution der sparsamen Nutzung von Ressourcen und der progressiven Entwicklung erneuerbarer Energien. Diese Revolution hat schon begonnen, und Deutschland liegt bisher mit an der Spitze der Nationen. Doch darauf dürfen wir uns nicht ausruhen.
Ich plädiere dafür, dass wir uns systematisch und umfassend Ziele für eine vorausschauende Transformationspolitik setzen. Ja, wir müssen uns damit auf weitreichende Umstellungen in der Wirtschaft und im Lebensstil einstellen. Aber es wird ein selbstgestalteter Wandel sein, kein erlittener. Und er wird sich lohnen: Experten sagen mir zum Beispiel, dass wir schon heute den Ressourcenverbrauch in Deutschland um 30 bis 40 Prozent senken könnten, wenn wir wirklich effizient wirtschaften würden. Ich bin überzeugt davon: Die "grüne Revolution" wird uns nicht nur die Arbeitsplätze und Einkommen der Zukunft sichern - die grüne Revolution wird auch unsere Lebensqualität verbessern.
Die Ökonomen möchte ich auffordern, noch stärker darüber nachzudenken, wie der marktwirtschaftliche Preismechanismus für eine vorausschauende ökologische Transformationspolitik genutzt werden kann. Ich bin zum Beispiel der Ansicht, dass die Ökosteuer durchaus mehr selbstbewusste politische Verfechter verdient hat - das zeigen viele Untersuchungen.
Mit knappen Ressourcen mehr erreichen - das gilt aber auch für unseren Sozialstaat insgesamt. Wir sollten ihn noch stärker vom Ziel her denken: vom einzelnen Menschen her. In seine Fähigkeiten gilt es zu investieren, seine Kraft zur Selbstbestimmung und zur Eigenvorsorge gilt es zu fördern und zu fordern. Ich nenne das den "investiven" Sozialstaat, Sie, Herr Professor Sinn, sprechen vom "aktivierenden" Sozialstaat. Es geht uns um dasselbe, und wir haben dabei, glaube ich, ein sehr ähnliches Menschenbild - wir glauben an die Mündigkeit des Bürgers. Die Agenda 2010 war ein Schritt vorwärts. Am Ziel sind wir nicht.
Um unseren Sozialstaat für das 21. Jahrhundert wetterfest zu machen, müssen wir ihn weiter konsequent darauf überprüfen, ob er in die Mündigkeit und Eigenständigkeit der Bürger investiert. Nur dann kann er das Nötige erreichen, ohne immer weiter zu expandieren - und effizienter werden muss er schon angesichts der dramatischen demographischen Veränderung unseres Landes. Wir wenden in Deutschland sehr viel Geld für Sozialleistungen auf - rund 750 Milliarden Euro jährlich, knapp ein Drittel unserer volkswirtschaftlichen Leistung. Aber wir erreichen damit oft deutlich weniger als andere Staaten. Zum Teil wissen wir nicht einmal, was wir erreichen. Ein Beispiel: Fast 190 Milliarden Euro geben wir für die Förderung von Ehen und Familien aus. Was aber davon tatsächlich dazu beiträgt, Menschen Mut zu machen, eine Familie zu gründen, was aber davon Kindern eine gute Zukunft gibt, das kann bislang niemand so recht sagen. Immerhin wird die Frage inzwischen gründlich untersucht.
Die beste soziale Sicherheit ist Hilfe zur Selbsthilfe, die beste gesellschaftliche Bewegung ist Aufstieg durch Leistung, und am besten schmeckt selbstverdientes Brot. Darum sollten wir von unserem Sozialstaat fordern: Jeder, der arbeiten will, muss arbeiten können und dann genug zum Leben haben. Diese Maxime lässt sich verwirklichen, zumal wir in Deutschland auch in der Beschäftigungspolitik vor einem Paradigmenwechsel stehen. Schon in wenigen Jahren beschert uns die demographische Entwicklung eher einen Mangel an gut qualifizierten Arbeitskräften. Die Unternehmen reagieren darauf ja auch schon mit dem Bemühen, Fachkräfte selbst bei schwieriger Auftragslage zu halten. Das ist zu begrüßen, doch wir können noch mehr tun.
Wir sollten zusätzlich vor allem den Arbeitsmarkt der personenbezogenen Dienstleistungen weiter entwickeln, zumal die Nachfrage nach ihnen weiter wächst. Die Menschen werden älter, und das heißt auch: Immer mehr Menschen brauchen Unterstützung und Pflege. Und: Immer mehr Haushalte werden darauf angewiesen sein oder sich wünschen, dass beide Partner arbeiten. Das bedeutet, dass die Nachfrage nach Kinderbetreuung und haushaltsnahen Dienstleistungen steigen wird.
Das zeigt zugleich: Uns geht in Deutschland die Arbeit nicht aus, und das bietet die Chance, dass alle, die Arbeit suchen, sich gebraucht und geschätzt fühlen können. Sowohl das Institut für die Zukunft der Arbeit als auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit haben beachtenswerte Vorschläge für eine zukunftsorientierte Arbeitsmarktpolitik unterbreitet. Ich teile ihre Auffassung, dass Vollbeschäftigung möglich ist in Deutschland. Warum nehmen wir uns dieses Ziel nicht endlich wirklich vor? Ein investiver Sozialstaat und eine Wirtschaft im Dienste der gesamten Gesellschaft - sie sind erreichbar!
Was ist nun der dritte Schritt vorwärts, hinaus aus der Finanzkrise? Welcher Gesellschaft soll die Wirtschaft förderlich sein? Ich kann auf diese Frage hier nur noch kurz eingehen. Wichtig ist aber, dass wir sie immer mit bedenken. Ich plädiere für das Leitbild einer freien, fairen und solidarischen Bürgergesellschaft. Sie schließt niemanden aus, sie hilft jeder und jedem, die eigenen Talente zu entfalten und ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen, sie bringt die Menschen zusammen.
Es ist wichtig zu erkennen, dass auch eine solche Gesellschaft der Subsidiarität von einer guten politischen Gestaltung der staatlichen Rahmenordnung abhängt. Die kleinen Lebenskreise sollen nicht Aufgaben für den Staat erledigen, für die diesem die Mittel ausgehen. Sondern: Die Selbstverantwortung der kleinen Kreise muss als eigener Wert geschätzt, aber auch für das Gemeinwohl genutzt werden.
Das setzt ein neues Verhältnis zwischen engagierten Bürgern und Staat voraus. Überall da, wo Menschen gesellschaftliche Aufgaben in Eigeninitiative und bürgerlichem Engagement lösen, soll der Staat sich nicht an ihre Stelle setzen, sondern sie unterstützen, soll er ihnen Freiheit geben und ihre Kraft und ihre Ideen anerkennen und fördern. Ich bin so vielen Menschen in unserem Land begegnet, die selbst anpacken, in Selbsthilfegruppen, im Sportverein, im Elternbeirat, in der Kirchengemeinde, in der Bürgerinitiative. Diese Menschen sind längst auf der Suche nach Lösungen auf die neuen Fragen, sie stiften Zusammenhalt, Solidarität, Zugehörigkeit, Vertrauen. In der Wirtschaft spricht man ja so gerne von Kapital. Das, was hier geschaffen wird, ist soziales Kapital. Das ist mindestens so wertvoll wie Finanzkapital.
The financial crisis - the way forward: Wenn die Politik die Finanzmärkte bändigt, wenn wir in Deutschland unsere Soziale Marktwirtschaft ökologisch transformieren, wenn wir unseren Sozialstaat investiv gestalten und das gesellschaftliche Miteinander stärken - dann haben wir die Finanzkrise nicht verschwendet, sondern zu einem neuen Aufbruch genutzt. Das ist des Schweißes der Edlen wert.
(Quelle: Bundespräsidialamt)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen