Dienstag, 2. Februar 2010

Zur Mehrdimensionalität des Bewertungsobjektes



1975 veröffentlichte Wolf - Rüdiger BRETZKE seine im Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis angesiedelte Arbeit "Das Prognoseproblem bei der Unternehmensbewertung". Er betrachtete die Mehrdimensionalität des Bewertungsobjektes als ein besonderes Problem der Bewertung ganzer Unternehmen:

Ganze Unternehmungen sind komplexe Gebilde, die sich durch eine uferlose Mannigfaltigkeit von Merkmalen auszeichnen. Die Merkmale einer Unternehmung sind jedoch für deren Bewertung immer nur dann bedeutsam, wenn sie zugleich Zielinhalte des jeweiligen Bewertungsträgers sind. Sie werden infolgedessen nie in vollem Umfang bei der Bewertung berücksichtigt. Vielmehr wirkt das Präferenzsystem eines Bewertungsträgers, das im vorangegangenen Abschnitt als Steuerungsinstanz von Bewertungsvorgängen identifiziert wurde, bereits im Stadium der Wahrnehmung selektiv und führt zu einer Beschreibung des jeweiligen Bewertungsobjektes, die dessen tatsächlichen Zustand nur ausschnittsweise (möglicherweise auch verzerrt) wiedergibt.

Die Erkenntnis, daß der Wert betriebswirtschaftlicher Bewertungsobjekte in der Praxis meist von verschiedenen Merkmalen bestimmt wird, hat in der Literatur zur Entwicklung verschiedener Ansätze zur Lösung von Bewertungsproblemen bei mehrfacher Zielsetzung geführt. In diesen Ansätzen wird das Problem der Ordnung einer Menge mehrdimensionaler Merkmalsträger im allgemeinen als Vektormaximierungsproblem und der Wert einer Alternative in der Regel als Summe ihrer gewichteten Zielbeiträge definiert. Der Versuch, das Problem der Bewertung unter heterogenen Zielvorstellungen durch eine Zielgewichtung zu lösen, erscheint auf den ersten Blick plausibel und erfolgversprechend, er erweist sich jedoch vor dem Hintergrund der im vorangegangenen Abschnitt geäußerten Kritik am Realitätsgehalt der Voraussetzungen des empirisch - induktiven Ansatzes der Wertmessung als ziemlich problematisch. Anlaß zur Skepsis gegenüber den praktischen Möglichkeiten dieses Versuchs geben insbesondere drei Gründe:

1. Eine den Präferenzen eines Bewertungsobjektes formal entsprechende Gewichtung von Zielen würde nur dann zu einer präferenzgerechten übergeordneten Zielfunktion führen, wenn bei der Gewichtung alle tatsächlich im Bewertungszeitpunkt vorherrschenden Ziele eines Bewertungssubjektes berücksichtigt werden. Dies erscheint jedoch praktisch unmöglich, da man sich prinzipiell immer nur eines Teiles der Bedürfnisse bewußt werden, das heißt ihrer als Zwecke inne werden kann.

2. Bedürfnisse bzw. Motive, die als Zielvorstellungen gedanklich isolierbar und sprachlich präzisierbar sind, sind - wie etwa die Zielinhalte "Macht" und "Prestige" - häufig nicht einer unmittelbaren kardinalen Messung zugänglich. Wie bereits bei der Kritik des empirisch - induktiven Ansatzes betont, ist jedoch die Anwendung von Gewichtungsfaktoren, die als Äquivalenzrelationen formal die Übertragbarkeit eines als Zielinhalt gekennzeichneten Merkmals "in eine gleichwertige Ausprägung eines beliebigen anderen Merkmales" gewährleisten sollen, nur sinnvoll unter der Bedingung einer kardinalen Meßbarkeit der durch die Gewichtung zu amalgamierenden Einzelziele.

3. Die empirische Ermittlung von Zielgewichten setzt voraus, daß das entsprechende Bewertungssubjekt fähig ist, Ziele verschiedenen Inhalts miteinander zu vergleichen und unabhängig von den in der Vergangenheit wahrgenommenen und den sich in der Zukunft bietenden Möglichkeiten zu ihrer Befriedigung in eine widerspruchsfreie und konsistente Rangordnung zu bringen. Diese Voraussetzung muß im Lichte unserer Kritik an der empirischen Gültigkeit der Konsistenzprämisse, der zufolge die relative Bedeutung eines Zieles im Verhältnis zu anderen Zielen nicht losgelöst vom Grad seiner Befriedigung un dem Grad der Befriedigung aller übrigen Ziele gemessen werden kann, bezweifelt werden.

Die Situationsbedingtheit von Zielordnungen läßt jedoch eine empirische Bestimmung von präferenzgerechten Zielgewichten selbst für den (unwahrscheinlichen) Fall unmöglich erscheinen, daß die Voraussetzungen der Vollständigkeit des Zielkatalogs und der Vergleichbarkeit und kardinalen Meßbarkeit der in ihm enthaltenen Ziele in praxi gegeben sind. Denn wenn sich infolge von Veränderungen der Wirklichkeit die Rangordnung der Ziele eines Subjektes verändert, dann verliert zugleich die übergeordnete Zielfunktion, die als Modell der Zielordnung formuliert wurde, ihre praktische Relevanz.

Nun könnte man mit einiger Berechtigung das gleiche von einem Modell behaupten, welches aus der Menge aller tatsächlich relevanten Zielinhalte ein Ziel herausgreift und den gesamten Bewertungsvorgang ausschließlich auf dieses eine Ziel abstellt. Offensichtlich wird mit dieser Vorgehensweise, für die wir uns mit der Beschränkung auf das Gewinnziel als monovariable Zielfunktion entschieden haben, das Problem der Mehrdimensionalität des Bewertungsobjektes "Unternehmung" nicht gelöst, sondern lediglich wegdefiniert. Es sei jedoch daran erinnert, daß der Ansatz zu einer modellgestützten Lösung von Bewertungsproblemen nicht mit dem Anspruch auf Entwicklung einer umfassenden, alle Eigenschaften des Bewertungssubjektes und der Bewertungsobjekte berücksichtigenden Lösung betrieben, sondern auf die Ableitung von Orientierungshilfen beschränkt werden sollte, die das jeweils gegebene Bewertungsproblem nur ausschnittweise beleuchten.

(Wolf-Rüdiger BRETZKE: Das Prognoseproblem bei der Unternehmungsbewertung, Band 1 der Schriftenreihe des Seminars für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und für Wirtschaftsprüfung der Universität zu Köln, Düsseldorf 1975, S. 41-44.) 

Etwa zur gleichen Zeit, 1973, zeigte Manfred - Jürgen MATSCHKE mit seinem allgemeinen Modell zur Ermittlung  mehrdimensionaler Entscheidungswerte innerhalb der funktionalen Unternehmensbewertung einen Lösungsrahmen für diese Problematik auf.


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