Freitag, 18. September 2009

Eugen Schmalenbach als unbewußter Systemtheoretiker !?


Das systemtheoretische Konzept der Autopoiese (griech. autos = selbst, poiein = hervorbringen) wurde von den Biologen MATURANA und VARELA entwickelt, um Lebensprozesse zu charakterisieren. Maturana definiert lebende Systeme folgendermaßen:

Das gegenwärtige biochemische Wissen erlaubt es uns, lebende Systeme als sich selbst erzeugende Systeme zu bezeichnen, die ihre eigenen Grenzen bestimmen und aufbauen. Dies lässt sich formal so ausdrücken: Es gibt eine Klasse mechanistischer Systeme; jedes Element dieser Klasse ist ein dynamisches System, das als Netzwerk von Prozessen der Produktion seiner eigenen Bestandteile definiert ist; diese Bestandteile wirken zum einen durch ihre Interaktionen in rekursiver Weise an der ständigen Erzeugung und Verwirklichung eben dieses Netzwerkes von Prozessen der Produktion mit, das sie selbst produziert hat, und konstruieren zum anderen dieses Netzwerk von Prozessen der Produktion von Bestandteilen als eine Einheit in einem Raum, den sie (die Bestandteile) dadurch definieren, dass sie seine Grenzen definieren. Solche Systeme nenne ich autopoietische Systeme und die Organisation eines autopoietischen Systems nenne ich autopoietische Organisation. Ein autopoietisches System, das durch physikalische Bestandteile verwirklicht wird, ist ein lebendes System.
(Maturana: Erkennen, Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig 1982, S. 280)

SCHMALENBACH leitet seine 1947 erschienene "Pretiale Wirtschaftslenkung, Band 1 Die optimale Geltungszahl" in einer bemerkenswerten Analogie zu Maturana mit dem Kapitel "Die Wirtschaft als Stoffwechsel" ein:

a) Die Natur des Stoffwechsels

"Unter Stoffwechsel versteht man eine Gruppe von biologischen Vorgängen. Man könnte annehmen, daß, wenn ich die Wirtschaft des Menschen als einen Stoffwechsel bezeichne, es sich lediglich um einen Vergleich handele. Das ist jedoch nicht die Meinung. Nach meiner Meinung ist die menschliche Wirtschaft ein biologischer Vorgang, und sie ist ein Stoffwechsel.

Diese Auffassung, die auf den weiteren Verlauf der Darstellung nicht ohne Wirkung ist, soll zunächst begründet werden.

Menschen und Tiere bedürfen zu Wiederaufbau und Erhaltung ihrer eigenen Körper und für die Erhaltung ihrer Art mannigfacher Stoffe.

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Dieser gesamte Vorgang von der Aufnahme bis zur Ausscheidung ist der Stoffwechsel. Der größte Unterschied zwischen den Lebewesen besteht in der verschiedenen Art der Aufnahme der Stoffe, ... . Dieser Unterschied wird hervorgerufen durch den Unterschied der Fähigkeiten, die von der Natur gebotenen Stoffe sich dienstbar zu machen.

Die Pflanze sieht sich auf die Stoffe in ihrer nächsten Umgebung angewiesen; zwar schickt sie, wenn sie Mangel an Wasser und damit an dem Stoff leidet, durch die ihr die für sie nötigen Bodensubstanzen zugeführt werden, Suchwurzeln aus. Aber ihre Reichweite ist kurz.

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Was wir bisher betrachteten, war der Stoffwechsel, den man als internen bezeichnen kann. Daneben gibt es Stoffwechsel externer Art. Der aufgesuchte Stoff wird nicht einverleibt, bleibt also dem Körper fern, dient aber gleichwohl einem gewünschten Zweck.

Der Übergang zwischen internem und externem Stoffwechsel ist der halbexterne Stoffwechsel .

Wir sehen die Spinne mit Hilfe besonderer körperlicher Einrichtungen einen Zellulosefaden ausscheiden, der in der Luft schnell erhärtet, und daraus ein Fangnetz herstellen, dazu dienend, Insekten zu fangen. Bei einigen großen tropischen Spinnen steigert sich diese Fähigkeit bis zum Fangen von kleinen Vögeln. Hier dient also die Stoffaufnahme nicht unmittelbar dem eigenen Körper, sonder der Herstellung des Fanggeräts. Bei der Seidenraupe dient der ausgeschiedene Faden einem anderen Zwecke, nämlich der Umhüllung der eigenen Person, wodurch dann der bekannte Kokon entsteht; es bleibt dem Betrachter überlassen, diese Umhüllung als Überzieher oder als Bett aufzufassen; jedenfalls ist es ein vornehmes Bett, denn es besteht aus lauter Seide. Ähnlich verhält es sich bei den Bienen und ihren Verwandten, die in der Lage sind, in ihren Körpern das Wachs für den Bau ihrer Waben zu erzeugen. In diesen Fällen handelt es sich nicht um einen rein externen, sondern um einen halbinternen und halbexternen Vorgang des Stoffwechsels.

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Das was den externen Stoffwechsel des Menschen von dem der Tiere wesentlich unterscheidet, ist zunächst seine Erfindungsgabe, die ihn befähigt, über den Instinkt hinaus seinen Verstand zu gebrauchen. Damit gewann er die Erkenntnis, daß man oft, sogar in der Regel, auf indirekte Weise besser zum Ziel kommt als auf direkte. Der Umweg ist oft bequemer als der gerade Weg.

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b) Der Stoffwechsel in der menschlichen Wirtschaft

Der interne Stoffwechsel der Organismen wird durch die ihnen verliehenen Organe geregelt. Von diesen Organen weiß der Biologe vieles, aber vieles weiß auch er nicht.

Von den Menschen wissen wir z.B., daß sein Stoffmangel sich durch den Hunger geltend macht. Hat er von einem Stoff genug aufgenommen, fühlt er sich satt. Hat er mit Stoffen bestimmter Art sich ungenügend versorgt, verspürt der gesunde Mensch für diesen Stoff besonderen Appetit. Ist der menschliche Körper mit bestimmten Stoffen genug angereichert, so steigert sich die Abwehr bis zum Widerwillen.

Woher im menschlichen Körper dieser die Stoffzufuhr regelnde nützliche Appetit und dieser nützliche Widerwille kommt, wissen wir als Nichtbiologen nicht einmal andeutungsweise. Es genügt uns zu wissen, daß er vorhanden ist. Der Schöpfer selbst hat diese Angelegenheit geregelt. Und sogar über den Schöpfer selbst wissen wir nur vom Hörensagen.

Aber für die menschliche Wirtschaft hat der Schöpfer diese Dinge nicht geregelt. Er hatte keinen Anlaß dazu. Denn wenn er dem Menschen die geistigen Kräfte gab, außerhalb des internen einen externen Stoffwechsel einzurichten, so mag er seine geistigen Kräfte auch benutzen, die damit zusammenhängenden Probleme zu meistern.

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Mir scheint bei der Betrachtung der Wirtschaft in den letzten 150 Jahren, daß man das Ganze zu sehr als technische und nicht genug als wirtschaftliche Vorgänge betrachtete, daß dabei insbesondere der hier betonte Aspekt, die Wirtschaft als Stoffwechsel zu betrachten, zu kurz gekommen ist. Dies nachzuholen, ist ein wesentlicher Zweck dieses Buches.

c) Stoffwechselstörungen

Wenn schon der interne Stoffwechsel der Organismen Erkrankungen ausgesetzt ist, so wird man sich nicht wundern, daß auch der von der Organisationskunst der Menschen abhängige Stoffwechsel ebenfalls oft erkrankt. Auch kann man sich leicht vorstellen, daß Stoffwechselerkrankungen für die menschliche Wirtschaft, die ganz und gar auf Stoffwechselvorgängen beruht, sich besonders schädlich auswirken müsssen.

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Nach bisherigen Erfahrungen ist die empfindlichste Störung, unter der der Stoffwechsel der menschlichen Wirtschaft leidet, eine Behinderung der Selektion durch Zerstörung der Maßeinheit, wie sie besonders durch sogenannte Inflation, d.h. Aufblähung der Kaufkraft durch Schaffung unechter Kaufkraft, die nicht auf wirtschaftlichen Leistungen des Käufers beruht, entsteht. Die Wirtschaftsgeschichte weist hunderte von Fällen auf, in denen der Staat selbst als Inhaber der Währungshoheit durch unwertige Zahlungsmittel, insbesondere durch Notendruck, sich eine solche unechte Kaufkraft verschaffte und seine Wirtschaft selbst betrog. Es ist eine traurige Erscheinung der Wirtschaftsgeschichte, wenn die Polizisten selbst zu Dieben werden.

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Außer den Inflationen sind für den wirtschaftlichen Stoffwechsel künstliche Preisregelungen von höchst schädlicher Wirkung, namentlich dann, wenn sie innerhalb einer Wirtschaftsorganisation erfolgen, die auf einen gesunden Preismechanismus angewiesen ist. Es gibt einzelne Fälle von Mangelerscheinungen, bei denen man in Krisenfällen ohne Preisregelungen nicht auskommt. Aber wenn man sie ohne dringende Not anwendet, sind die unvermeidlichen Störungen größer als der erstrebte Vorteil. Sie haben vor allem den Nachteil, die Preisrelationen zu verschieben und so Fehlmaßnahmen zu bewirken, die den Wirtschaftskörper schwer schädigen. Infolge falscher Preisrelationen werden Stoffe verbraucht, die man durch andere ersetzen sollte, werden Arbeitsverfahren angewendet, die nur wegen falscher Kostenrechnung als vorteilhaft erscheinen, werden Betriebe erhalten, die man wegen unlohnender Wirtschaft schließen sollte, wird Kapital investiert, das an anderer Stelle größeren Nutzen stiften könnte usw.

Diese kurzen Erinnerungen mögen genügen, um davon zu überzeugen, daß es wichtig ist, die Wirtschaft von Stoffwechselkrankheiten zu bewahren. Man muß immer daran denken, daß es die Aufgabe der Wirtschaft ist, mit kleinstem Mittel ein Höchstmaß von Leistung zu bewirken, und daß dies nicht möglich ist , wenn die Betriebe nicht exakt kalkulieren können.

Dazu gehört das, was wir als optimale Geltungszahl bezeichnen und wovon nunmehr gesprochen werden soll.

d) Die optimale Geltungszahl

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Die optimale Geltungszahl ist nichts anderes, als der seit langer Zeit benutzte "objektive Tauschwert".

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Wenn ich das Wort "optimale Geltungszahl" benutze, so soll also dadurch nicht der Gedanke entstehen, als solle mit dem neuen Wort eine von Grund auf neue Lehre geschaffen werden. Meine Meinung ist eine ganz andere. Ich bin der Ansicht, daß ich im Folgenden wenig zu bieten haben werde, was nicht schon irgendwie und irgendwann vorgedacht ist.

Aber ich brauche ein Wort, das erstens möglichst genau angibt, um was es sich handeln soll und das zweitens störende Nebengedanken fern hält. Die "optimale Geltungszahl" ist die Zahl, die wir bei verschiedenen Gütern ansetzen müssen, um angesichts der Vielheit der Güter die richtige Entscheidung treffen zu können. Richtige Entscheidung ist diejenige Zahl, die den höchsten Grad von Wirtschaftlichkeit verspricht. Wie sich eine solche Zahl gewinnen läßt, haben wir erst noch zu ergründen. Aber wir wissen nun, worauf das Ziel der Unternehmung gerichtet ist."


Auch Schmalenbachs Vorwort zu dem o.g. Buch zeigt seine gedankliche Nähe zur Systemtheorie, in der Lenkung zur Reduktion von Komplexität eingesetzt wird:

"Bei der Organisation der Wirtschaftskörper ist das Lenkungsproblem von besonderer Wichtigkeit. Als wesentliche Unterscheidung der Lenkungsmethoden hat diejenige in zentrale und dezentrale Lenkung zu gelten, wobei sich ergibt, daß die zentrale Lenkung auf bürokratische, die dezentrale Lenkung dagegen auf pretiale Mittel angewiesen ist.

Da die Methoden der pretialen Lenkung außerhalb der Wirtschaftswissenschaften wenig bekannt sind und auch innerhalb derselben fachwissenschaftlich nicht genügend durchforscht sind, erschien es angebracht, diesen Gegenstand und seinen theoretischen Unterbau ausführlich darzustellen.

Daß die Darstellung nicht bei der Organisation der Betriebe stehen bleiben, sondern auch die volkswirtschaftlichen Erscheinungen betrachten mußte, erklärt sich aus den zahlreichen Parallelen, die bei dem Problem der pretialen Lenkung auftreten und die auch der Leser nicht entbehren kann, um in dasselbe einzudringen."


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